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Karsai in Schwierigkeiten

Beschwerdekommission erklärt Wahl in Afghanistan für teilweise ungültig. Besatzer gehen auf Distanz

Die Wahlbeschwerdekommission (ECC) in Afghanistan hat am Montag (19. Okt.) die Auszählungsergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 20. August in 210 Wahllokalen für ungültig erklärt. Es gebe »eindeutige und überzeugende Beweise für Betrug«, erklärte die ECC in Kabul. Sie habe die Wahlkommission aufgefordert, »einen bestimmten Prozentanteil der Stimmen für jeden Kandidaten« für ungültig zu erklären.

Den vorläufigen amtlichen Ergebnissen zufolge sollte Amtsinhaber Hamid Karsai etwa 55 Prozent der Stimmen erzielt haben, der frühere Außenminister Abdullah rund 28 Prozent. Ein westlicher Diplomat sagte AFP, der Stimmenanteil für Karsai sei nun auf etwa 48 Prozent nach unten korrigiert worden. Sollte Karsai unter die 50-Prozent-Marke fallen, wäre eine Stichwahl fällig.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 16. bis 20. Oktober in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Als Beweise für die Betrugsvorwürfe nannte die ECC Wahllokale, in der die Hälfte, in manchen Fällen sogar alle Wahlzettel gleiche Markierungen aufgewiesen hätten. In anderen Fällen seien die Wahlzettel nie gefaltet worden. In einigen Fällen wurden Wahlzettel für ungültig erklärt, wenn nicht so viele Stimmzettel in die Wahlurne gepaßt hätten, wie aus dem Ergebnis hervorging.

Den Besatzern in Afghanistan ist Karsai mittlerweile lästig geworden. Der afghanische Präsident sei »am Ende« und habe durch seine »korrupte Amtsführung und seine Manipulationen und Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl alles im Land kaputt gemacht«, erklärte ein hochrangiger Vertreter des US-Geheimdienstes CIA am Montag der Nachrichtenagentur ddp. Der Präsident stelle mittlerweile »fast ein größeres Problem als letztlich die Taliban dar«. Die US-Regierung wolle zwar »in letzter Minute das Ruder herumreißen«, wisse aber nicht, wie das gelingen könne, sagte der CIA-Mann, der nicht namentlich genannt werden wollte. »Wenn es uns in kürzester Zeit nicht gelingt, Tritt zu fassen, werden wir aufgeben müssen.« (ddp/AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 20. Oktober 2009


Wahldesaster

Vor Einheitsregierung in Afghanistan

Von Werner Pirker **


Daß die Präsidentenwahlen in Afghanistan in jedem Fall mit einem Sieg der Demokratie geendet hätten, wagt inzwischen niemand mehr zu behaupten. Und falls es stimmen sollte, daß die Afghanen dem Taliban-Terror todesmutig die Stirn geboten hatten, um ihren Anspruch auf freie Wahlen kundzutun, dann wäre das Resultat ihrer demokratischen Willensbekundung umso niederschmetternder gewesen. Das Ergebnis ist, daß es kein Ergebnis gibt.

Während die Unabhängige Wahlkommission für Amtsinhaber Hamid Karsai eine absolute Mehrheit von 55 Prozent errechnet hatte, kam die von der UNO unterstützte Wahlbeschwerdekommission zu dem »Ergebnis«, daß mindestens jede vierte Stimme gefälscht gewesen sei, was eine Stichwahl erforderlich mache. Da eine solche aber das gleiche Ergebnis zeitigen würde, nämlich kein von beiden Seiten anerkanntes, kann man sich den zweiten Durchgang sparen. So wie man sich auch den ersten hätte sparen können. Denn selbst wenn die afghanische Bevölkerung durch ihre zahlreiche Beteiligung an den von den Besatzern verordneten Wahlen ihre demokratische Reife unter Beweis gestellt haben sollte: Die Eliten sind noch weit davon entfernt. Und so wurde offenkundig, was das eigentliche Wesen von Wahlen unter Besatzungsbedingungen ausmacht. Wie die von den Afghanen getroffene Wahl ausgefallen ist, bestimmt die Fremdherrschaft. Diesmal wollte sie ihrem Statthalter den offenkundigen Betrug nicht durchgehen lassen.

Das liegt zum einen daran, daß dieser sich mitunter genötigt sah, den Besatzerterror zu verurteilen. Zum anderen wird versucht, radikalen Unmutsbekundungen gegen das korrupte System vorzubeugen. Ein zweiter Wahlgang hätte dem fremdbestimmten Regime eine stärkere Legitimationsbasis verleihen sollen. Karsai sollten lediglich die Grenzen seiner Macht aufgezeigt werden. Ein Regimewechsel war nicht vorgesehen. Doch der Paschtune auf dem Präsidentenstuhl erwies sich als zu machtbewußt, um sich für ein solches Manöver zur Verfügung zu stellen.

Als Ausweg aus diesem Patt präsentierte der aus Afghanistan stammende US-Spitzendiplomat Zalmay Khalilzad die Idee einer nationalen Einheitsregierung. Damit, so da das Kalkül, könnte man die gescheiterten Präsidentschaftswahlen ohne größeren Gesichtsverlust ad acta legen. Da der Wahlbetrug keine Einbahnstraße gewesen, sondern eher zum gegenseitigen Nachteil erfolgt sein dürfte, wäre eine solche Regierung wahrheitsgemäß als Koalition der Wahlbetrüger zu bezeichnen.

So wurde die Demokratisierung Afghanistans zur Afghanistanisierung der Demokratie. Westliche Überheblichkeit gegenüber den Demokratielehrlingen am Fuß des Hindukusch ist indes völlig unangebracht. Die Peinlichkeit einer Wahl ohne objektivierbares Ergebnis ist auch schon anderswo passiert. So in der mächtigsten Demokratie der Welt, als der Sieger der US-Präsidentenwahl 2000 per Gerichtsentscheid ermittelt werden mußte.

** Aus: junge Welt, 20. Oktober 2009


Wahlfarce am Hindukusch

Von Olaf Standke ***

Der neue Akt passt sich nahtlos in die afghanische Wahlfarce ein. Zwei Monate nach dem umstrittenen Votum ist die Untersuchung der Betrugsvorwürfe zwar offiziell abgeschlossen, ein Endergebnis aber weiter unklar. Die Auszählung in 210 Wahllokalen erklärte die von der UNO unterstützte Beschwerdekommission (ECC) zwar für ungültig, doch ob Amtsinhaber Hamid Karsai nach Abzug der gefälschten Stimmen die verkündete absolute Mehrheit im ersten Wahlgang in Wahrheit verfehlt hat, ließ sie offen. Aus den zusammengetragenen Betrugsbeweisen hätte das eigentlich hochgerechnet werden können. Aber die von Anhängern Karsais dominierte Kabuler Wahlkommission soll sich ohnehin weigern, die ECC-Analyse zu akzeptieren. Mehr noch, das Präsidentenlager wirft seinerseits dem Westen vor, die Resultate zu manipulieren.

Sollte der Verlust der absoluten Mehrheit Karsais offiziell werden, wäre eine Stichwahl erforderlich. Eine Duldung des nachgewiesenen massiven Wahlbetrugs dürfte den Westen das letzte politische Kapital kosten, das er am Hindukusch möglicherweise noch hat. Profiteure der immer größer werdenden Enttäuschung der Afghanen wären vor allem die Taliban. Schon jetzt ist der Schaden groß genug. Und ohne einen legitimierten Präsidenten würden die Aussichten, das Land zu befrieden und wieder aufzubauen, weiter schwinden. Was eine Tragödie wäre.

*** Aus: Neues Deutschland, 20. Oktober 2009 (Kommentar)

Chef-Taliban: Hakimullah Mehsud ist der 30-Jährige Anführer der »Tehrik-e-Taliban Pakistan«

Die Armee Pakistans setzte auch gestern ihre »Großoffensive« gegen die Taliban in Süd-Waziristan fort – und dabei stoßen die inzwischen 28 000 Soldaten offensichtlich auf viel stärkeren Widerstand als erwartet. »Bis zum letzten Blutstropfen« werde man kämpfen, so ein Sprecher der radikalen Islamisten. Süd-Waziristan gilt als sicherer Rückzugsort für Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer, die für Anschläge auf die NATO-Truppen in Afghanistan verantwortlich gemacht werden. Die Regierung in Islamabad geht von über 10 000 Taliban in der teilautonomen Region mit rund 600 000 Einwohnern aus. Hinzu kommen nach Geheimdienstangaben etwa 1500 ausländische Extremisten. Einer der mächtigsten Anführer des Widerstands ist Hakimullah Mehsud. Er soll hinter der jüngsten Serie von blutigen Anschlägen in Lahore, Peshawar und Rawalpindi mit mindestens 175 Toten stehen, Racheakte für die Ermordung seines Ziehvaters.

Der 30-Jährige wurde erst im August zum Nachfolger des getöteten Stammesbruders Baitullah Mehsud, Chef der Bewegung »Tehrik-e-Taliban Pakistan« (TTP), ernannt. Er war zuvor jahrelang rechte Hand des TTP-Gründers und hatte zuletzt das Kommando in den nördlich von Waziristan gelegenen Stammesgebieten wie Khyber, wo es seit Mitte vergangenen Jahres verstärkt Angriffe gegen Nachschubkonvois für die NATO-Truppen in Afghanistan gibt. In einem kleinen Dorf in Süd-Waziristan geboren, hatte sich Mehsud schon als Jugendlicher einer extremistischen Miliz angeschlossen, die für Hunderte Morde an Angehörigen der schiitischen Minderheit in der Stammesregion verantwortlich gemacht wird. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan Ende 2001 kämpfte er am Hindukusch gegen die internationalen Truppen.

Die neue Offensive gegen seine Verbände in Süd-Waziristan ist bereits der vierte Versuch Islamabads seit 2001, die Taliban aus der Region zu vertreiben. Die drei bisherigen Militäroperationen endeten jeweils mit einem Waffenstillstand, der letztlich der TTP die Kontrolle beließ. Dieses Mal, so die Regierung, werde es keine Verhandlungslösung für Hakimullah Mehsud geben. Gestern bereitete man den Sturm auf seinen Heimatort Kotkai vor.

Olaf Standke

Quelle: Neues Deutschland, 20. Oktober 2009




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