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"Es wird wieder viel Betrug geben"

Am Sonnabend wird in Afghanistan ein neues Unterhaus des Parlaments gewählt / Gewalt, Chaos und Manipulationen bedrohen Gültigkeit des Wählervotums

Von Olaf Standke *

2556 Kandidaten bewerben sich am Sonnabend (18. Sep.) um die 249 Sitze im afghanischen Unterhaus. Massiver Betrug machte die Präsidentschaftswahl im Vorjahr zur Farce. Der zweiten Parlamentswahl seit Sturz der Taliban Ende 2001 droht nun ein ähnliches Schicksal.

Zwei Mal bereits musste der Urnengang verschoben werden. Und angesichts einer »sehr schwierigen Lage« durch die zunehmenden Angriffe der Taliban sei es »eigentlich ein Wunder«, dass die Parlamentswahl am Sonnabend überhaupt stattfindet. Doch Staffan de Mistura ist optimistisch. Das Votum zur Wolesi Dschirga, dem Kabuler Unterhaus, werde den kriegsmüden Afghanen zeigen, dass »die Demokratie zwar noch nicht ausgereift ist, aber kontinuierlich voranschreitet«, dass »Wahlen besser sind als Waffen«. Ganz davon abgesehen, dass diese Abstimmung auch ein wichtiges Signal an die internationale Gemeinschaft sei, schließlich finanziert sie die 117 Millionen Euro teure Abstimmung.

Doch der UN-Sondergesandte führt mit seinem Zweckoptimismus nicht gerade eine Massenbewegung an. Auch der Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Michael Steiner, warnte vor überzogenen Erwartungen. »Natürlich wird es wieder viel Betrug geben«, meint Johann Kriegler. Der einstige südafrikanische Richter ist einer von zwei Ausländern in der Kommission für Wahlbeschwerden. Im Vorjahr wurde die Wiederwahl von Präsident Hamid Karsai von massiven Fälschungen überschattet. So gab es etwa in sieben Provinzen mehr registrierte Wähler als Einwohner. Fast ein Drittel der Stimmen des ersten Wahlgangs im August 2009 wurde später von einer UN-gestützten Beobachtergruppe wegen Betrugs für ungültig erklärt. Und die Parlamentswahl morgen drohe ähnlich chaotisch und umstritten abzulaufen, wie der »Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction«, eine Überwachungsbehörde der US-amerikanischen Regierung, befürchtet.

Ihr jetzt veröffentlichter Report gesteht zwar zu, dass einige logistische Probleme angegangen worden seien, darunter verbesserte Möglichkeiten, um Stimmzettel zurückzuverfolgen. Allerdings bestünden tiefer gehende Probleme weiter. So sei die Sicherheitsüberprüfung von Kandidaten noch immer unzulänglich, womit die Gefahr besteht, dass regionale Kriegsfürsten und Mitglieder von Milizen künftig das Parlament dominieren. Oder es mangele an glaubwürdigen Listen registrierter Wähler. Offenbar werden auch massenhaft gefälschte Stimmzettel nach Afghanistan geschmuggelt. Ein Mitarbeiter einer Druckerei im pakistanischen Peshawar sagte dem Fernsehsender »Tolo News« dieser Tage, dass eine große Zahl davon in der Stadt hergestellt worden sei. Peshawar liegt an der Grenze zu Afghanistan.

Hinzu kommt, dass die zunehmende Gewalt im Lande die Gültigkeit des Ergebnisses ohnehin gefährde, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert. »Die Angriffe der Taliban und der große Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit der afghanischen Regierung, die Sicherheit bei den Wahlen zu garantieren, stellen die Gültigkeit des Urnengangs in Frage.« Seit Beginn des Wahlkampfes Ende Juni wurden der Stiftung für Freie und Faire Wahlen in Afghanistan (FEFA) zufolge mindestens drei Kandidaten und elf Mitarbeiter getötet und viele weitere verschleppt oder verletzt. Hunderte Wahllokale werden aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben, was für viele Bürger lange Anreisen zum nächsten Büro erfordert. Auch in einigen Gebieten im Norden Afghanistans, die unter der Verantwortung der Bundeswehr stehen, ist die Lage sehr angespannt.

Das alles seien »langfristige Fragen, die zu behandeln Jahre dauern wird«, heißt es in dem US-Report. Erschwerend sei dabei, dass die afghanische Beschwerdekommission seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl an Unabhängigkeit verloren hat. Inzwischen werden alle Mitglieder von Karsai berufen, auch die beiden internationalen Bevollmächtigten. Zuvor gab es drei ausländische Mitglieder, die von den Vereinten Nationen ausgewählt wurden.

Die Parlamentswahl werde so nach Einschätzung des deutschen Wahlbeobachters Thomas Ruttig weder frei noch fair verlaufen. Dafür fehlten »nach internationalen Maßstäben die institutionellen und rechtlichen Voraussetzungen«, sagt der Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN). Schuld daran sei aber auch die internationale Gemeinschaft. Sie hätte viel mehr Einfluss auf die afghanische Regierung, die erstmals eine Wahl allein organisiert, nehmen müssen.

Zahlen und Fakten

  • Zum zweiten Mal seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 sind die Afghanen aufgerufen, ein Parlament zu wählen. Um die 249 Sitze im Unterhaus (Wolesi Dschirga) bewerben sich 2556 Kandidaten, die mit einfacher, nicht übertragbarer Stimme gewählt werden. Parteien stehen nicht zur Abstimmung.
  • 68 Sitze sind für Frauen reserviert. 407 Kandidatinnen stehen zur Wahl, bei der Parlamentswahl 2005 lag diese Zahl mit 328 niedriger.
  • Nach Angaben der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) sind 17,5 Mio Wähler registriert. Tatsächlich rechnet die IEC aber nur mit 12,5 Mio Wahlberechtigten. Bei früheren Wahlen waren teilweise mehrere Wahlausweise an einzelne Afghanen ausgegeben worden, die immer noch gültig sind. Ein Wählerregister existiert weiter nicht.
  • Am Wahltag sollen nach IEC-Angaben 5897 Wahllokale mit rund 18 000 Wahlkabinen geöffnet werden. Wegen der schlechten Sicherheitslage bleiben weitere 1119 Wahllokale in gefährlichen Gegenden geschlossen. Seit Beginn des Wahlkampfs am 23. Juni wurden drei Kandidaten getötet.
  • Die meisten unabhängigen Wahlbeobachter stellt die »Free and Fair Election Foundation of Afghanistan« (FEFA). Sie will am Wahltag mit 7000 Beobachtern für Transparenz sorgen. Zudem sind zahlreiche »Kandidaten-Agenten« im Einsatz, die für bestimmte Bewerber die Wahl beobachten und so nicht unabhängig sind.
  • Ausländische Wahlbeobachter sind schwächer vertreten als bei der Präsidentschaftswahl im Vorjahr, die von massivem Betrug überschattet war. Vor Verkündung eines amtlichen Endergebnisses durch die IEC muss die Wahlbeschwerdekommission (ECC) Vorwürfe über Wahlbetrug prüfen. Die IEC will nach eigenen Angaben am 30. Oktober ein amtliches Endergebnis mitteilen. (Agenturen/ND)


* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2010


Haß auf die Besatzer

Angespannte Sicherheitslage vor »Parlamentswahlen« in Afghanistan am heutigen Samstag. Taliban kündigen blutige Überfälle an

Von Rainer Rupp **

Einen Tag vor den sogenannten Parlamentswahlen am heutigen Samstag in Afghanistan sind landesweit die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. Die Polizei richtete am Freitag zusätzliche Kontrollstellen ein, nachdem die Taliban mit Anschlägen auf Wähler und Mitarbeiter in Wahllokalen gedroht hatten. In der östlichen Provinz Chost wurden laut Polizei in der Nacht Flugblätter in Moscheen verteilt, die einen blutigen Wahltag ankündigten.

Bereits im Vorfeld hatten sich chaotische Verhältnisse abgezeichnet. Zuletzt war es in Kabul und anderen Städten immer wieder zu Demonstrationen gegen das von den Medien weithin publizierte Vorhaben US-amerikanischer christlicher Fundamentalisten gekommen, die den Koran verbrennen wollten. Eine bessere Propaganda gegen die sich zur Wahl stellenden US-Marionetten hätten selbst die Taliban nicht erfinden können. Für einen großen Teil der Bevölkerung gilt dies als handfester Beweis dafür, daß die fremden Truppen, insbesondere die US-amerikanischen, nur deshalb im Land sind, um Krieg gegen den Islam zu führen. Dies hat viele Afghanen in ihrem Haß auf die Besatzer geeint.

In diesem Zusammenhang erklärte der Leiter der UN-Mission in Afghanistan, Staffan de Mistura, mit Blick auf die anhaltende Gewalt in Afghanistan: »Das ist wahrscheinlich einer der schlechtesten Orte und die schlechteste Zeit in der ganzen Welt, um eine Wahl abzuhalten.« US-Außenminister Robert Gates erklärte dagegen am Donnerstag vor Journalisten in Washington, Afghanistan sei in der Lage, die Sicherheit während der Parlamentswahl zu garantieren. Außerdem geht der Minister davon aus, daß die amerikanische Strategie der Truppenverstärkung in Afghanistan funktioniert. Gates erklärte, fast alle 30000 zusätzlichen Soldaten seien bis Ende August in Afghanistan eingetroffen. Eine für Ende des Jahres geplante Überprüfung des Plans werde zeigen, daß die Strategie von US-Präsident Barack Obama die richtige sei.

Zu dieser Strategie gehört auch die These, daß es erst schlechter gehen muß, bevor es besser werden kann. Daher gibt es für die USA auch keinen Grund zur Sorge, wenn andere Berichte eine rapide Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan registrieren. Dazu gehört die Tatsache, daß alle Bemühungen der US- und NATO-Streitkräfte, den Süden des Landes militärisch und politisch für die Regierung in Kabul zu gewinnen, gescheitert sind. Außerdem hat die Regierung von Präsident Hamid Karsai durch ihre für jeden sichtbare Verwicklung in Korruption und enge Geschäftsbeziehungen mit Drogenbaronen und Kriegsverbrechern jegliche Legitimation verloren.

Die professionellen Schönredner müssen sogar aus dem Umstand Hoffnung schöpfen, daß alle Bemühungen der NATO, aus der vielfach aus Analphabeten bestehenden afghanischen Nationalarmee kampfstarke Einheiten zu machen, gescheitert sind. Nicht zuletzt hat der Zusammenbruch der korrupten Kabul-Bank auch der kleinen afghanischen Mittelschicht ihr Erspartes geraubt und damit auch deren Glauben an die Wunder des westlichen Kapitalismus’.

Wie schlimm muß es noch werden, bevor es besser wird?

** Aus: junge Welt, 18. September 2010


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