Rühe: Der Krieg in Afghanistan ist ein "Desaster"
Kritische Stimmen mehren sich / Vor der Wahl regiert das Chaos / Präsidentenpalast unter Granatbeschuss
Je näher die Präsidentenwahl in Afghanistan kommt, desto mehr nehmen die Anschläge, Attentate und Gefechte zwischen Besatzern und Aufständischen zu. In der politischen Klasse überwiegen Durchhalteparolen. Man werde sich auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte am Hindukusch einnisten. Im Folgenden dokumentieren wir mehrere Artikel und Kommentare.
Durchhalteparolen für Truppen in Afghanistan
Verteidigungsminister Jung weist immer stärkere Forderung nach Abzug der Bundeswehr zurück *
Wenige Tage vor der Präsidentenwahl in Afghanistan gibt es in Deutschland eine neue Debatte um
einen Rückzug der Bundeswehr aus dem Land.
Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wies am Montag (17. August)
Forderungen nach einem schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zurück. Die deutschen
Soldaten müssten sicherlich noch »fünf bis zehn Jahre« in dem Land bleiben, sagte Jung der »Bild«-
Zeitung. Der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) hatte zuvor einen Abzug der
Bundeswehr in zwei Jahren gefordert. Ziel des Einsatzes am Hindukusch sei es, Afghanistan in die
Lage zu versetzen, selbst für seine Sicherheit zu sorgen, sagte Jung. »Dies wird sicherlich noch
einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren in Anspruch nehmen.«
Die LINKE kritisierte Jungs Äußerungen scharf. Der verteidigungspolitische Sprecher der
Bundestagsfraktion Paul Schäfer sprach von »immer hohler klingenden Durchhalteparolen«. Nur
Gewaltverzicht eröffne einen Ausweg aus der afghanischen Sackgasse. Der Abzug der Bundeswehr
sei ohne Alternative.
Rühe hatte den internationalen Militäreinsatz in Afghanistan als »Desaster« bezeichnet. »Wir sollten
uns dort in den kommenden zwei Jahren mit voller Kraft engagieren und dann den Abzug einleiten«,
sagte er dem »Spiegel«.
Unterdessen forderte auch der frühere Leiter des Planungsstabs der Bundeswehr, Ulrich Weisser,
ein Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan bis spätestens 2011. Den Deutschen dürfe nicht
die Aussicht präsentiert werden, »noch weitere zehn Jahre Krieg zu führen, der in einem Land, das
von Drogenkartellen beherrscht und von Korruption zerfressen wird, nicht zu gewinnen ist«, schrieb
Weisser in einem Beitrag für die »Frankfurter Rundschau«. Die Politik habe bislang nicht
überzeugend dargelegt, warum deutsche Soldaten überhaupt in Afghanistan eingesetzt sind. »Der
Satz, dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird, reicht nicht aus«, erklärte Weisser.
Auch der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, kritisierte die Afghanistan-
Politik der Bundesregierung. Der Krieg sei unter dem »klassischen Gesichtspunkt geführt worden,
den Gegner zu vernichten, nicht aber, mit allen Mitteln die Zivilbevölkerung zu schützen«, sagte
Koenigs der »Berliner Zeitung«. Der Grünen-Politiker forderte einen stärkeren zivilen Einsatz in
Afghanistan, »viel mehr Polizeiaufbau, viel mehr Unterstützung der demokratischen Kräfte und
Verhandlungen mit den Taliban«.
Regierungssprecher Ulrich Wilhelm lehnt indes einen raschen Abzug der Bundeswehr ab. Der
Einsatz werde zwar nicht »ohne Not« ausgedehnt, andererseits dürften die internationalen
Anstrengungen nicht dadurch entwertet werden, »dass wir zu früh aus dem Land herausgehen und
einen Rückschlag riskieren«, sagte er am Montag in Berlin.
Insgesamt sind im Norden Afghanistans rund 3900 deutsche Soldaten im Einsatz. In den
vergangenen Monaten nahmen die Angriffe auf die deutschen Truppen zu. Für Donnerstag sind 17
Millionen Stimmberechtigte in Afghanistan aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Die
radikalislamischen Taliban haben zum Boykott der Wahl aufgerufen.
Schon 204 Briten am Hindukusch gefallen
Die Zahl der seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes 2001 getöteten Briten ist auf 204 gestiegen. Am
Sonntag waren drei britische Soldaten getötet worden, als ihre Patrouille in der südafghanischen
Provinz Helmand von Aufständischen angegriffen wurde. Premierminister Gordon Brown sagte,
auch »in Zeiten der Trauer« werde die Regierung an der »Entschlossenheit für ein stabiles
Afghanistan festhalten«, um »Großbritannien und den Rest der Welt sicherer zu machen«.
* Aus: Neues Deutschland, 18. August 2009
Urnengang wird zum Gewalt-Marsch
Vor den Wahlen eskaliert in Afghanistan der Terror / Obama: Langer Kampf
gegen Taliban **
Kurz vor den Wahlen in Afghanistan nimmt die Gewalt weiter zu. Im Norden
wurden erneut deutsche Soldaten der NATO-Truppe ISAF angegriffen.
Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul starben am
Dienstag (18. Aug.) mindestens zehn Menschen und mehr als 50 weitere wurden
verletzt, nach Angaben der NATO-Truppe ISAF waren auch ausländische
Soldaten unter den Opfern. Zuvor hatten radikal-islamische Taliban, die
zum Boykott der Wahl aufrufen, Raketen auf die Hauptstadt abgefeuert und
unter anderem den Präsidentenpalast getroffen.
Der Attentäter sprengte sich nach Polizeiangaben auf einer belebten
Hauptstraße im Osten der Hauptstadt in die Luft. Der Anschlag, zu dem
sich die Taliban bekannten, richtete sich gegen einen Konvoi der
internationalen Truppen, wie ein Polizeivertreter sagte. Da die Bombe in
der Nähe eines Basars hochging, seien zahlreiche Zivilisten unter den
Opfern. Nach UN-Angaben wurden auch zwei Mitarbeiter der Vereinten
Nationen getötet, ein weiterer erlitt Verletzungen.
Nach Angaben von Sicherheitsvertretern waren zuvor zwei bis drei Raketen
auf Kabul abgefeuert worden. Ein Geschoss schlug am Rande des
Präsidentenpalastes ein.
Im Norden Afghanistans wurden am Dienstag erneut deutsche Soldaten der
NATO-Truppe ISAF angegriffen. Wie das Einsatzführungskommando in Potsdam
mitteilte, wurden gegen 6.40 Uhr Ortszeit etwa sechs Kilometer
südwestlich des Feldlagers in Kundus mehrere Angehörige des Regionalen
Wiederaufbauteams mit Handfeuerwaffen und Panzerabwehrwaffen beschossen.
Die deutschen Soldaten blieben demnach unverletzt und erwiderten das
Feuer. Über Opfer auf gegnerischer Seite lagen zunächst keine
Informationen vor. Ein beschädigter Transportpanzer vom Typ Fuchs sei in
das Feldlager zurückgebracht worden.
Nach Einschätzung der ISAF sind die Taliban so stark wie nie seit dem
Sturz ihres Regimes vor knapp acht Jahren. »Die Lage hier ist ernst«,
sagte ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal in einem Gespräch mit
deutschsprachigen Medien am Dienstag in Kabul. »Der Aufstand ist
gewachsen.« Zugleich hätten zwar auch die Fähigkeiten der afghanischen
Regierung zugenommen. »Aber wir haben hier eine echte Herausforderung
für die Souveränität und das Volk Afghanistans.« Trotzdem betonte der
US-General: »Ich denke nicht, dass wir diesen Wettbewerb an den Aufstand
verlieren werden.«
Die afghanische Regierung forderte die einheimischen und internationalen
Medien auf, am Tag der Präsidentschaftswahl nicht über gewaltsame
Zwischenfälle im Land zu berichten. Zwischen 6 und 20 Uhr am Donnerstag
solle die Aussendung von Berichten über jegliche gewaltsamen
Zwischenfälle unterlassen werden, teilte das Außenministerium am
Dienstag mit. Einen entsprechenden Beschluss habe der Nationale
Sicherheitsrat gefasst, um eine möglichst breite Teilnahme der Afghanen
an der Wahl zu sichern und Terroranschläge zu vermeiden. Ein Sprecher
des Außenministeriums sagte, es gebe keine Konsequenzen für
Journalisten, die sich nicht an die Aufforderung hielten. Es sei
lediglich ihre »ethische Verantwortung«, dem Folge zu leisten.
US-Präsident Barack Obama schwor sein Land derweil auf einen langen
Kampf gegen Taliban und andere Rebellen in Afghanistan ein. »Wir werden
sie nicht über Nacht besiegen«, sagte Obama vor Kriegsveteranen im
US-Staat Arizona. Zugleich verteidigte er den Einsatz am Hindukusch als
»grundlegend für den Schutz des amerikanischen Volkes«.
** Aus: Neues Deutschland, 19. August 2009
Mörsergranaten auf den Präsidentenpalast
Erneut Angriffe auf Kabul. NATO will am Wahltag in Afghanistan keine Militäroffensive starten ***
Die afghanischen Wahlen am morgigen Donnerstag finden unter
Kriegsbedingungen statt. Etwa 175 000 afghanische Sicherheitskräfte sind
im Einsatz. Zusätzlich sind rund 100000 Besatzungssoldaten im Land, die
am Wahltag aber eher im Hintergrund bleiben wollen, um den Eindruck
einer Beeinflussung zu vermeiden.
Am Dienstag (18. Aug.) kam es in der Hauptstadt Kabul erneut zu Angriffen. Unter
anderem schlugen Mörsergranaten in ummittelbarer Nähe des
Präsidentenpalastes ein. Der stellvertretende Sprecher von Amtsinhaber
Hamid Karsai, Hamid Elmi, erklärte, weder der Staatschef noch
Mitarbeiter seien verletzt worden. Bei einem Attentat am Stadtrand von
Kabul wurden mindestens sieben Menschen getötet und etwa 50 verletzt,
wie die Behörden mitteilten. Unter den Toten befinden sich den Angaben
zufolge möglicherweise auch Besatzungssoldaten. Ein Taliban-Sprecher
bekannte sich zu diesem Anschlag auf der Straße von Kabul zum
US-Stützpunkt Bagram. Erst am Samstag kostete ein Selbstmordattentat vor
dem NATO-Hauptquartier in Kabul sieben Zivilpersonen das Leben, fast 100
Menschen wurden verletzt.
Die NATO-geführte Besatzertruppe ISAF kündigte unterdessen an, während
der Wahl auf »Militäroffensiven zu verzichten«. Es solle lediglich
»Aktionen« geben, die zum Schutz der Bevölkerung für nötig erachtet
würden, erklärte das Militärbündnis am Dienstag. Eine ähnliche Anweisung
hatte zuvor Präsident Hamid Karsai an die afghanischen Streitkräfte
ausgegeben.
In der südlichen Provinz Urusgan griff ein Selbstmordattentäter am
Dienstag einen Stützpunkt der einheimischen Militärs an und riß nach
Polizeiangaben drei afghanische Soldaten und zwei Passanten mit in den
Tod. Im Osten des Landes wurden bei einem weiteren Anschlag zwei
US-Soldaten getötet. Im afghanischen Norden wurden erneut deutsche
Soldaten mit Handfeuerwaffen und Panzerabwehr#waffen beschossen. Die
deutschen Besatzer blieben unverletzt. Über Opfer auf gegnerischer Seite
lagen zunächst keine Informationen vor. (AFP/AP/jW)
*** Aus: junge Welt, 19. August 2009
Wahl im Krieg
Von Olaf Standke ****
Zum »Tag des Friedens« hat die Regierung in Kabul den Donnerstag
erklärt. Doch vor der Präsidentenwahl in Afghanistan wird die Lage im
Lande immer explosiver. Gestern zerfetzte eine Bombe in der Hauptstadt
erneut mindestens zehn Menschen. Das Votum über den nächsten Staatschef
ist eine Wahl im Schatten allgegenwärtigen Terrors. Von der politischen
Aufbruchstimmung, die bei der ersten Präsidentenwahl nach Jahrzehnten
des Krieges vor fünf Jahren durchaus herrschte, ist nichts geblieben.
Die Regierung hat sich als unfähig erwiesen und Präsident Karsai
versucht, sich den erneuten Wahlerfolg durch Abkommen mit Warlords und
Drogenbaronen zu erkaufen. Derweil ist die soziale Situation nicht
weniger angespannt als die Sicherheitslage. Die Zahl der Anschläge in
diesem Jahr ist schon jetzt die höchste seit dem Taliban-Sturz 2001.
Die von den USA geführte Besatzung des Landes ist ein Fiasko. Doch
obwohl es das NATO-Bündnis nicht schafft, das Land militärisch zu
befrieden, und alle bisherigen Truppenverstärkungen den Widerstand nur
noch angestachelt haben, will man die Zahl der Soldaten weiter erhöhen.
USA-Präsident Obama hat im Vorfeld der Wahlen die Entsendung von 21 000
zusätzlichen Militärs angeordnet, gerade noch einmal einen langen Kampf
gegen die Taliban angekündigt und seine Strategie verteidigt - als
notwendigen Krieg im Interesse der Sicherheit des »amerikanischen
Volkes«. Vom afghanischen war keine Rede.
**** Aus: Neues Deutschland, 19. August 2009 (Kommentar)
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