Wie ist die Lage in Afghanistan wirklich?
Ein UN-Mitarbeiter in Kabul berichtet aus erster Hand
Am 1. Februar erschien in der deutschen Wochenzeitung "Freitag" ein Interview mit dem UN-Mitarbeiter Thomas Ruttig. Am 7. Februar veröffentlichte die Schweizer Wochenzeitung WoZ ebenfalls ein Interview mit Thomas Ruttig. Wir haben die wichtigsten Informationen aus beiden Gesprächen zusammengestellt.
"Die UNO ist in Afghanistan seit den achtziger Jahren engagiert, sicher mit
wechselndem Erfolg. Die internationale Gemeinschaft hat Afghanistan -
und das wird inzwischen von allen zugegeben - im Stich gelassen und ist
jetzt einfach in der Pflicht. Aber es hat immer humanitäres Engagement
gegeben, dass sich - wenn wir hier stabile politische Verhältnisse haben -
auch wieder auf langfristige Entwicklungshilfe erstrecken wird."
Aus die Frage, ob die Hilfe jetzt einfacher geworden sei, antwortet Thomas Ruttig:
"Nein, nur sind die Schwierigkeiten andere als unter den Taleban. Man hat
nicht mehr mit Restriktionen zu kämpfen, dafür aber ist die Sicherheitslage
in dieser Übergangszeit sehr viel prekärer. Und das beschränkt und
behindert die humanitäre Arbeit."
Ruttig vermutet, dass die Mehrheit der Bevölkerung froh über das militärische Eingreifen der USA ist und fährt fort:
"Ich persönlich würde
immer nicht-militärische Konfliktlösungen bevorzugen. Aber man muss
eben auch zur Kenntnis nehmen, was mir unlängst ein Afghane gesagt hat
und dem ich nur schwer etwas entgegensetzen kann: 'Die
Bombardements sind schlimm, vor allem die zivilen Opfer. Aber die
Taleban waren schlimmer.'
Th. Ruttig zu den Finanzhilfen:
"Die Zusagen von Tokio über 4,5 Milliarden Dollar liegen unter dem, was
man vorher als Bedarf genannt hatte. Es gibt gut ausgebildete Leute in
Afghanistan, die willens sind, ihr Land nach 23 Bürgerkrieg wieder
aufzubauen. Die benötigen Startkapital. Ob das im Bildungs- oder
Gesundheitswesen ist oder bei der total danieder liegenden Infrastruktur -
es gibt im Grunde fast nichts, dass nicht wieder aufgebaut werden müsste."
...
Natürlich erwartet man von den USA ein deutlicheres Engagement beim
Wiederaufbau. Die internationale Gemeinschaft steht im Wort und ich
persönlich glaube, dass diese Versprechungen gehalten werden. Sonst
könnte das Land erneut in eine Instabilität zurück sinken, die vor zehn
Jahren zu einer Situation geführt hat, die für die westliche Welt am 11.
September kulminiert ist. Ein Afghane hat mir vor ein paar Tagen gesagt:
'Ihr im Westen hattet den 11. September. Wir haben den 11. September
hier jeden Tag.'"
Zur unabhängigen Kommission, die den Rahmen für die Einberufung einer außerordentlichen Stammesversammlung (Loja Jirga) schaffen soll:
"Wir haben großen Wert auf die Unabhängigkeit der Kommission gelegt und
vor allem auch zivilgesellschaftliche und demokratische Gruppierungen
einbezogen. Wir wollten, dass keine Parteikader der ehemaligen
Konfliktparteien nominiert werden, sondern möglichst unabhängige
Kandidaten. Das ist uns in weiten Teilen auch gelungen. Es gab erfreulich
wenig Versuche, sich in unsere Arbeit einzumischen. Die Kommission ist
unabhängig - sowohl von der Regierung, aber auch von der UN. Beide
stehen zur Konsultation bereit, aber mehr auch nicht.
...
Wir haben darauf geachtet, dass Experten für Verfassungsrecht,
traditionelles Recht und islamisches Recht in diesem Prozess mitarbeiten,
damit alle Blickwinkel, die in der afghanischen Gesellschaft vorkommen,
auch vertreten sind. Im übrigen ist die Loja Jirga in der Geschichte
Afghanistans recht häufig von der jeweiligen Regierung dominiert oder
manipuliert worden. Wir wollen versuchen, den auf zwei, drei Jahre
angelegten Übergangsprozess so demokratisch wie möglich zu gestallten."
Thomas Ruttig zur Frage, wie lange wohl das UN-Engagement dauern werde:
"Das Engagement ist ganz sicher auf lange Sicht angelegt, muss es auch
sein. Das Land ist 23 Jahre lang bis in die Grundfesten zerstört worden.
Der Wiederaufbau wird mindestens so lange dauern und ohne
internationale Hilfe nicht zu bewältigen sein. Von daher ist die Rolle der UN
schon zentral. Aber ich sehe nicht, dass wir hier ein UN-Protektorat haben
oder errichten wollen. Die UN-Präsenz in Afghanistan ist ganz sicher nicht
mit der in Ost-Timor zu vergleichen."
... (Auch das militärische Engagement) wird ein paar Jahre andauern müssen, bis der Aufbau eigener Armee- und
Polizeikräfte auf den Weg gebracht ist. In dieser Zeitspanne wird sich das
Engagement schrittweise von der Truppenstationierung auf die Ausbildung
einheimischer Kräfte verlagern."
Zur Frage nach der Rückkehr von Exil-Afghanen:
"Der Aufbau braucht beide: jene, die blieben, aber auch Rückkehrer aus
dem Exil. Immerhin sind in den vergangenen Jahrzehnten große Teile der
afghanischen Elite ausgewandert. Eine andere Frage ist, wie viele kommen
werden. Die meisten haben sich ein Leben und eine Zukunft im Westen
aufgebaut. Aber es gibt Verbindungen, auch familiärer Art, die man nutzen
muss. Dass es zu Spannungen kommt, kann gar nicht ausbleiben, weil die
Lebenswirklichkeiten doch sehr, sehr unterschiedlich sind."
So weit die Auszüge aus dem Interview im Freitag, 1. Februar 2002. (Interviewer war Torsten Wöhlert)
Die erste Frage im WoZ-Interview betraf die Kämpfe zwischen rivalisierenden Clans in Gardes. Thomas ruttig:
... es stimmt, dass verschiedene Kräfte versuchen, sich im
Vorfeld der Loya Jirga zu positionieren, Machtpositionen einzunehmen, um
dann eine gute Ausgangsposition zu haben, wenn die Delegierten
bestimmt werden. Es gibt auch Berichte, wonach im Land von
verschiedenen Leuten Geld verteilt wird. Die Regierung versucht, diesen
ungehinderten Zustrom der afghanischen Währung - die nach wie vor in
Russland gedruckt wird - einzudämmen. ..."
Nach welchen Kriterien wird die Kommission zur Einberufung der Loya Jirga gebildet?
Th. Ruttig: "Ein Kriterium war die Unabhängigkeit von den Kriegsparteien, soweit dies
unter afghanischen Verhältnissen überhaupt möglich ist. Zweitens sollten
die Mitglieder in breiten Kreisen der afghanischen Bevölkerung angesehen
sein, und drittens sollten sie mehrheitlich im Land selbst leben, also die
aktuellen Gegebenheiten kennen. Es ist uns gelungen, eine ganze Reihe
von Intellektuellen zu berufen, die aus der Vergangenheit hohes Ansehen
geniessen. Und wir haben viele Rechtsspezialisten."
Auch drei Frauen sind dabei:
"eine Rechtsprofessorin, eine Gründerin einer Frauenorganisation,
die illegal unter den Taliban gearbeitet hat, und eine dritte Frau, die
ebenfalls einen juristischen Hintergrund hat und im pakistanischen Exil
tätig war."
Zur UN-Sicherungstruppe ISAF:
"Aktuell sind von den geplanten 4.500 Mann über 3.000 in Kabul stationiert.
Die volle Stärke soll Ende Februar erreicht werden. Die Soldaten
patrouillieren Tag und Nacht durch die Hauptstadt und sind seit den letzten
Tagen auch sichtbarer. Das gibt den Leuten ein Gefühl der Sicherheit. Das
Land sozusagen militärisch unter Kontrolle zu nehmen durch eine
Polizeitruppe, wäre ganz schwierig. Das haben hier schon andere
ausländische Armeen zu spüren bekommen, obwohl sich die Situation
natürlich geändert hat: Während die Sowjets und die britischen
Kolonialherren die Bevölkerung gegen sich hatten, ist eine ganz grosse
Mehrheit der Afghanen heute sehr dafür, dass internationale Truppen hier
versuchen, Sicherheit und Frieden zu gewährleisten."
Im Folgenden begründet Thomas Ruttig, warum seiner Ansicht nach die UN-Truppe auch außerhalb Kabuls eingesetzt werden sollte:
"... Dafür ist ein neues Mandat
des Uno-Sicherheitsrates notwendig, und das geht nicht von heute auf
morgen. Afghanistan ist ein schwieriges Land, grosse Teile des Landes
sind extrem bergig, die Infrastruktur samt der Strassenverbindungen liegt
total am Boden. Schon die Operation der Schutztruppe hier in Kabul ist ein
logistischer Albtraum. Stellen Sie sich vor, das für das ganze Land zu
machen! Davor schrecken natürlich viele Regierungen zurück, weil das
eine wahrscheinlich noch nie da gewesene Operation werden wird. Es ist
aber notwendig, dass auch ausserhalb Kabuls von der internationalen
Gemeinschaft etwas getan wird. Die Afghanen wünschen sich das. Wir
bekommen hier fast täglich vehement vorgetragene Wünsche in diese
Richtung.
Verbunden mit der Frage nach der Sicherheit ist auch die Arbeit
der Hilfsorganisationen. Erreichen sie die entlegenen Gebiete?
In einigen Gebieten ist die Sicherheit einfach nicht gegeben, um Hilfe
leisten zu können. Und wir haben jetzt Winter und viele Strassen sind
unpassierbar. Ich habe heute morgen im Radio gehört, dass im Gebiet
Badghis im Nordosten zehntausende von Menschen vom Hunger bedroht
sein sollen und dass es dort keine einzige Familie mehr gebe, die noch
keine Todesopfer zu beklagen habe."
Zur Lage der Frauen:
"Es gibt graduelle Änderungen. Die meisten Frauen gehen aber nach wie
vor verschleiert durch die Strassen. Es ist noch eine grosse Unsicherheit
da. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass der Fundamentalismus
in Afghanistan mit dem Ende der Taliban-Herrschaft vorüber sei. Eine
Bedrohung liegt nach wie vor in der Luft. Es gibt Berichte über vereinzelte
Angriffe auf Frauen, die die Burka abgelegt haben; ein Massenphänomen
ist das zwar nicht, aber vielleicht hat es nur deshalb nicht mehr Übergriffe
gegeben, weil die Frauen sich zurückhalten. Auch demokratische
Gruppen, die sich unter den Taliban im Untergrund oder jetzt neu gebildet
haben, sind noch nicht an die Öffentlichkeit getreten. Sie warten ab, wie
sich die politische Situation entwickelt. Wichtig ist jetzt, dass die
Aussenwelt zur Kenntnis nimmt, dass Afghanistan demokratische
politische Kräfte braucht und die vorhandenen Ansätze unterstützt. Erst
dann sind Stabilität und ein menschenwürdiges Leben in Afghanistan
möglich."
Das Interview in der WoZ, 7. Februar 2002, führte Judith Huber
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