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"Politisch falsch"

Der Abzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan begann am 15. Mai 1988

Von Matin Baraki *

Mit der Übernahme des Amts des Generalsekretärs der KPdSU durch Michail Gorbatschow im März 1985 änderte sich auch die Afghanistan-Politik der Partei. Babrak Karmal hatte mit dem Eintreffen der sowjetischen Armee im Dezember 1979 den Vorsitz der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) und die Regierungsführung übernommen. Mit der Sowjetmacht im Rücken sollte das feudal geordnete Land demokratisch reformiert werden. Für den neuen Kreml-Chef war Karmal aber ein Hemmnis zur Lösung des kriegerischen Konflikts zwischen der Roten Armee und den islamistischen »Freiheitskämpfern«, den Mudschaheddin. Im Jahre 1986 wurde er von allen seinen Funktionen entbunden. Gorbatschows Mann Dr. Nadschibullah übernahm die Geschäfte. Er leitete eine Politik der nationalen Versöhnung ein und bot der Opposition eine Regierungsbeteiligung an, die aber an einer Teilung der Macht nicht interessiert war und deshalb ablehnte.

Mit dem Antritt des neuen Mannes in Moskau wurde der Abzug der über 100000 Rotarmisten aus Afghanistan angeordnet und am 15. Mai 1988 auch begonnen. Vorangegangen waren Verhandlungen unter UN-Vermittlung in Genf zwischen Afghanistan und Pakistan, das über die Jahre den islamistischen Terror unterstützt hatte. Die USA und die UdSSR fungierten auf der Grundlage der Genfer Vereinbarung vom 14. April 1988 als Garantiemächte und hatten sich verpflichtet, nach dem Abzug keine weitere Unterstützung an ihre jeweiligen Verbündeten zu leisten.

Der Oberkommandierende General der sowjetischen Armee in Afghanistan, Boris Gromow, nannte den Abzug militärisch unnötig und politisch falsch. Denn, der Krieg zunächst unter der von den USA aufgebauten Mudschaheddin, später Taliban, gegen Afghanistan ging nun mit einer nie erwarteten Intensität und Brutalität weiter.

UdSSR schreitet ein

Nach Angaben der Vereinten Nationen von 1971 gehörte Afghanistan zu den 25 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug 1977 rund 150 US-Dollar. Zirka 17 Millionen Menschen lebten in dem Feudalstaat, davon waren fünf Prozent Großgrundbesitzer, die über die Hälfte des Bodens besaßen. 85 Prozent der Afghanen lebten auf dem Land. Etwa 97 Prozent von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. 1967 waren landesweit lediglich 88 Industriebetriebe mit 23436 Beschäftigten registriert. Nur 0,6 Prozent der 3,8 Millionen Erwerbstätigen arbeiteten in der industriellen Produktion.

Um diese feudalen Strukturen aufzubrechen, kam es am 27. April 1978 zu einem Militäraufstand gegen den Prinzen Mohammad Daud. Die Soldaten befreiten den eingekerkerten Vorstand der DVPA und übertrugen ihm die Staatsmacht. Die neue Regierung leitete fundamentale Reformen mit sozialistischer Ausrichtung ein, das Verhältnis zur Sowjetunion wurde normalisiert. Dies war der Grund dafür, daß in westlichen Metropolen die Alarmglocken läuteten. Afghanistan dürfe keine Schule machen, ansonsten werde die ölreiche Region revolutioniert, warnten US-Strategen.

Die westlichen Geheimdienste wurden beauftragt, die afghanische Regierung zu stürzen. Der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident James Carter, Zbigniew Brzezinski, bestätigte, daß dieser am 3. Juli 1979 die erste Direktive über die geheime Unterstützung der islamistischen Opposition gegen die Regierung in Kabul unterzeichnet hatte.

Diese rückwärtsgerichteten Kräfte terrorisierten Politiker und Lehrer. Bevorzugt wurden Mädchenschulen zerstört und Schülerinnen mit Säure attackiert. Bis Ende 1983 waren 1814, also die Hälfte aller Schulen, und 130 Krankenhäuser des Landes zerstört. Der gesamte Schaden belief sich auf 35 Milliarden Afghani. Das entsprach damals etwa der Hälfte aller Investitionen des Landes in den letzten 20 Jahren. »Die Existenz von Trainingslagern ist wohl nicht mehr ernsthaft zu bezweifeln. (…) Die Aufständischen selber verweisen stolz auf US-amerikanische, chinesische und islamische Finanz-, Ausbildungs- und Waffenhilfe«, berichtete die Neue Zürcher Zeitung im Januar 1980.

Da die Gefahr eins Umsturzes bevorstand, nahm die afghanische Regierung 1979 die Militärhilfe der UdSSR in Anspruch. So sollte Afghanistan das Schicksal Chiles unter dem Putschgeneral Augusto Pinochet ab 1973 erspart bleiben. Die UdSSR wurde von afghanischer Seite 20mal vergeblich um Hilfe gebeten, erst beim 21. Mal stimmte Staatschef Leonid Breshnew zu. Am 27. Dezember 1979 folgte die sowjetische Intervention, basierend auf Artikel 4 des afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages vom 5. Dezember 1978 und Artikel 51 der UN-Charta.

USA finanzieren Islamisten

Die westlichen Länder hatten damit ein wichtiges Ziel erreicht: »Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, daß sie es tun, wissentlich erhöht«, betonte Brzezinski 1998. Der Konflikt wurde dadurch internationalisiert und nun von den westlichen Ländern offen geschürt. Alle »Freiheitskämpfer« hatten in den westlichen Metropolen Verbindungsbüros eröffnet. Über sie wurden Reisebegegnungen zwischen Mudschaheddin-Kommandeuren und westlichen Politikern, Medienleuten, Geheimdienstlern, Wirtschaftsmanagern und Waffenlobbyisten sowie Rekruten für den Widerstand organisiert. Die Islamisten wurden in Deutschland von hochrangigen Politikern wie Ernst Albrecht, Alfred Dregger, Helmut Kohl (alle CDU) und Willy Brandt (SPD) empfangen. Bundeswehroffiziere wurden vom Dienst beurlaubt und, als Privatpersonen getarnt, zum Einsatz nach Afghanistan zwecks Ausbildung von Kämpfern geschickt. Auch der BND unterstützte die Islamisten. Die GSG 9 bildete sie aus, Flugzeuge der Bundeswehr brachten Gasmasken, Nachtsichtgeräte, Decken und Zelte nach Peschawar.

Die CIA führte ab 1979 die größte Geheimoperation in ihrer Geschichte durch. Es wurden unmittelbar unter ihrer Regie über 35000 Mudschaheddin aus 40 Ländern zu Terroristen ausgebildet. Über 100000 weitere kamen hinzu. Auch Osama bin Laden wurde mit Hilfe des US-Geheimdienstes nach Afghanistan gebracht. Der Führer der Islamischen Partei, Gulbuddin Hekmatjar, der Mann, der für alle wichtigen Geheimdienste dieser Welt gearbeitet und dabei Tausende Menschenleben auf dem Gewissen hat, war der Favorit der CIA.

Der US-amerikanische Geheimdienst unterstützte die afghanischen Islamisten im Rechnungsjahr 1985 mit 250 Millionen Dollar. Dies machte damals über 80 Prozent des CIA-Budgets für weltweite geheime Operationen aus. Die Mudschaheddin sind in den ersten zehn Jahren des Bürgerkrieges mit zwei Milliarden Dollar hochgerüstet worden. Seit 1987 wurden von den USA jährlich über 65000 Tonnen Waffen nach Peschawar gebracht. Über 60 Prozent der jährlich 700 Millionen Dollar US-Hilfe für die Islamisten ging bis 1991 an Hekmatjar. Allein seine Truppe erhielt 1000 US-Stinger-Raketen und 300 britische tragbare Flugabwehrraketen.

Wie die USA Afghanistan »warlordisierten«

Auf dem Petersberg bei Bonn wurde Ende 2001 mit 20 US-Vertretern eine Regierung für Kabul gebastelt. Man einigte sich auf die Nominierung von Hamid Karsai zum Regierungschef, der in den Jahren des Bürgerkrieges gute Kontakte zur CIA gepflegt hatte.

So beginnt die Ära der afghanischen Warlords, von Herrschern über ein Stammesgebiet, die ihre Interessen mit ihren ausgerüsteten Truppen durchsetzen. Für die Sicherheit der Kabuler Administration gründete man die von den NATO-Staaten gestellte Schutztruppe (ISAF). Damit wurde die Chance für eine mögliche Demokratisierung und Demilitarisierung Afghanistans verspielt. Um die internationale Öffentlichkeit zu täuschen, haben die USA seit 2002 Wahlen organisiert. Die New York Times nannte die Art und Weise, wie die Kandidatur Karsais zum Präsidenten zustande gekommen war, »eine plumpe amerikanische Aktion«. Infolge dieser verfehlten Politik wurde der Krieg gegen Afghanistan und die Destabilisierung der Region, vor allem Pakistans, einer Atommacht mit starken islamistischen Kräften, in Kauf genommen.

Die Kriegsstrategie des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama besteht in der Intensivierung des Krieges sowie seiner Ausdehnung auf die pakistanischen Stammesgebiete. Darüber hinaus sollten die afghanischen Sicherheitskräfte massiv aufgestockt, ausgebildet und ausgerüstet werden, um den Krieg zu »afghanisieren«. Dies wird seit einem Jahr der Öffentlichkeit als Abzug verkauft. Schließlich soll die US-Militärpräsenz am Hindukusch auf unabsehbare Zeit gesichert werden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 11. Mai 2013


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