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"Das Friedensbewahrungsprogramm des NATO-Vertrages wurde nachhaltig modifiziert"

Linksfraktion reicht Klage gegen den Tornado-Beschluss ein - Ein Überblick über das juristische Kurzgutachten

Bekanntlich hat die Links-Franktion vor dem Bundesferfassungsgericht (BVerfG) ein Organstreitverfahren gegen den Tornado-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan angestrengt, nachdem ein erster Eil-Antrag zweier Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt worden war. Das BVerfG hatte argumentiert, die Antragsteller seien "nicht befugt", "Rechte des Bundestages geltend zu machen". (Siehe: die Pressemitteilung des BVerfG im Wortlaut.)
So sprang eben die Linksfraktion in die Bresche.



Mit Datum vom 20. März 2007 hat Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M. vom Institut für Öffentliches Recht an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein "Kurzgutachten" eingereicht, in dem zu zwei Fragen Stellung genommen wird:
  1. Hat die Bundesregierung die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG dadurch verletzt, dass sie sich an einer konsensualen Fortentwicklung des Nordatlantikvertrages beteiligt hat, welche gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertrages verstößt und sich dadurch außerhalb des von dem Zustimmungsgesetz gesteckten Ermächtigungsrahmens stellt?
  2. Verletzt die Bundesregierung durch die Beteiligung von Soldaten der deutschen Bundeswehr an dem erweiterten ISAF-Mandat (BT-Drs. 16/4298) die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG?
Das Kurzgutachten ist 32 Seiten stark und kann hier als pdf-Datei heruntergeladen werden: "Parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit bei der Fortbildung völkerrechtlicher Verträge".
Um das Ergebnis des Gutachtens vorwegzunehmen: Beide Fragen werden positiv beantwortet:
  1. Die Bundesregierung hat die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG dadurch verletzt, dass sie sich an einer konsensualen Fortentwicklung des Nordatlantikvertrages beteiligt hat, welche gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertrages verstößt und sich dadurch außerhalb des von dem Zustimmungsgesetz gesteckten Ermächtigungsrahmens stellt.
  2. Die Bundesregierung verletzt durch die Beteiligung von Soldaten der deutschen Bundeswehr an dem erweiterten ISAF-Mandat (BT- Drs. 16/4298) die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG.
(Hervorhebungen von mir)

Artikel 59 Abs. 2 GG lautet:
Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend.

Breiten Raum nimmt in dem Gutachten der Nachweis ein, dass sich die NATO seit ihrer Gründung (1949) bzw. seit dem Beitritt der Bundesrepublik (1955) grundlegend geändert habe - nicht-juristisch ausgedrückt: von einem reinen Verteidigungsbündnis innerhalb festgelegter Grenzen zu einem weltweit operierenden Interventionsbündns. Auch die ISAF-Operation in Afghanistan, die von der NATO angeführt wird, geschieht außerhalb des Art. 5 des NATO-Vertrags. Dessen Wortlaut zur Erinnerung:

Artikel 5
Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nord-atlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.
Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaß- nahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.


Hinzu kommen die Beschränkung der NATO auf ihren Verteidigungsauftrag, der in Anlehnung an den Selbstverteigigungsartikel der UN_V´Charta (Art. 51) formuliert ist, und die ursprüngliche territoriale Eingrenzung der NATO entsprechend Art. 6 des Nordatlantikvertrags:

Artikel 6
Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere Parteien jeder bewaffnete Angriff
  • auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses;
  • auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten ... befinden.
(Siehe: Der Washingtoner (NATO-) Vertrag vom 4. April 1949 im Wortlaut.)

Diese Unverträglichkeit des Afghanistan-Einsatzes mit dem NATO-Vertrag gilt erst recht, wenn beachtet wird, dass die NATO-geführte ISAF inzwischen mit der Operation Enduring Freedom verkoppelt wurde. Der Autor des Gutachtens kommt zu dem Ergebnis, dass die NATO im Zuge ihrer Fortentwicklung ihren Charakter derart stark verändert hat, dass sie sozusagen neu entstanden ist, und zwar in dreierlei Hinsicht:
  • "Die NATO wird von einem Verteidigungsbündnis zu einem weltweiten Sicherheitsdienstleister entwickelt.
  • Der Bezug der Operationen zur euro-atlantischen Region ist nicht mehr unmittelbar gewährleistet.
  • Durch Kooperationen mit nicht-NATO-geführten Militäroperationen wurde das Integrations- und Friedensbewahrungsprogramm des NATO-Vertrages nachhaltig modifiziert.
Da nun diese Fortentwicklung der NATO Rechtsnorm angenommen hat, hätte der Bundestag als das Verfassungsorgan, das internationale Verträge ratifiziert (und seiner Zeit den Washingtoner Vertrag beim Eintritt in die NATO ratifiziert hat), gefragt werden müssen. Dies ist indessen nie geschehen, sondern allen neuen strategischen Grundsatzerklärungen der NATO hat lediglich die Bundesregierung zugestimmt. Aus all diesen Gründen hat die Linksfraktion Klage erhoben. Man darf gespannt sein, wie es dieser Klage ergeht. Das Verfassungsrecht scheint klar auf der Seite des Gutachters und der Klägerin zu liegen. Aber das ist noch lange keine Garantie dafür, dass die Klage erfolgreich sein wird. Zu wünschen wäre es.

P. Strutynski


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