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Vater ist im Krieg. AFGHANISTAN-CODE

Von Wolfgang Gehrcke *

»Mein Papa ist Soldat.« Damit beginnt das aktuelle und lesenswerte Buch von Mark Thörner. Ich hätte gern, dass der Deutsche Bundestag 622 Exemplare davon kauft und jede und jeder Abgeordnete sich zur Lektüre dieses Buches – selbstverständlich freiwillig – verpflichtet. »Papa schenkt afghanischen Kindern Bonbons, Papa erzieht seinen Sohn aus der Entfernung mit sparsamen, doch deshalb wirksamen Ratschlägen, Papa riskiert sein Leben, damit am Hindukusch die Mädchen in die Schule gehen dürfen … Papa braucht jetzt einen fleißigen Schutzengel, zu dem wir vor dem Einschlafen beten sollen.«

Papas Heldenmut hört sich fast an wie die Reden meiner Kollegen Westerwelle, Steinmeier, Schockenhoff oder wer auch immer. Das Märchen vom Papa beseelt den Bundestag. Bei mir wird eine Kindheitserinnerung wach: Meine Mutter, eine redliche Frau, sang mir immer das militaristische Kinderlied »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg. Dein Vater ist im Pommernland, Pommernland ist abgebrannt.« Papa ist im Krieg in Afghanistan, vom Deutschen Bundestag dorthin geschickt worden und Afghanistan brennt. Täglich sterben Menschen und täglich wird behauptet, dies alles geschehe, damit die Mädchen in Afghanistan wieder zur Schule gehen können.

Mark Thörner schildert aus der Sicht eines neuen politischen Subjekts, einer neuen Art und Weise der Berichterstattung. Der »eingebettete Journalist«. Es ist richtig, dass im Krieg zuerst die Wahrheit stirbt, aber sie stirbt auf subtile Art und Weise, nicht immer gleich erkennbar. Alles wird mit dem Krieg verbunden und in ihn eingeordnet. Journalisten werden zum Teil des Krieges, weil – der Krieg muss selbstverständlich auch an der Heimatfront gewonnen werden. Zivile Hilfe wird mit dem Krieg verkoppelt und zum Teil der Kriegsführung. Das ist die neue Strategie. Polizei und Militär kaum mehr unterscheidbar, eben alles ist in den Krieg eingebettet. Eine grüne Kollegin erzählte mir jüngst händeringend, um mich für eine Zustimmung zum Bundeswehreinsatz zu gewinnen: »Wolfgang, wir brauchen drei Soldaten, um einen Polizisten zu schützen.« Nun will ich weder Polizisten noch Soldaten nach Afghanistan schicken, aber das scheint die Lage zu sein. Der Aufstand in Afghanistan ist so weit, dass nichts mehr sicher ist. Weder Karsai in seinem Palast noch die Bundeswehrsoldaten in ihrem Lager in Kundus, erst recht nicht die einfachen Menschen auf der Straße.

Der Autor hat das große Verdienst, den Bundeswehreinsatz so zu schildern, wie er wahrscheinlich ist: gewalttätig. Krieg ist eben Dreck; Blut und Tränen und die Toten von Kundus sind kein Versehen, sondern Ausdruck und Wesen des Krieges. Angesichts dessen liest es sich schon fast zynisch, wenn der Presseoffizier, Major Beck, mit dem Satz zitiert wird, »Unsere Jungs wissen schon, wohin sie schießen.« Konfrontiert mit dem Umstand der Erstürmung eines Wohnhauses eines Ortsvorstehers, bei dem fünf seiner Hausangestellten durch US-Soldaten erschossen wurden, wird das Leiden des Krieges hautnah. Herr Hassan, der Türsteher des Hauses, ging dabei »drauf«. »Wir haben versucht, die Wand niederzureißen, sagt der Sekretär des Ortsvorstehers, aber Hassans Blut kommt immer wieder durch.« Dies kann man als Synonym für ganz Afghanistan nehmen. Das Blut kommt immer wieder durch, egal wie viel Tünche über der Wahrheit ausgegossen wird.

Immer wieder durch kommt auch, dass das, was vor Jahren zum Sturz der linken Regimes als gut gelobt und unterstützt wurde, heute als verwerflich gilt. Die Taliban, von CIA und pakistanischem Geheimdienst gepäppelt und bewaffnet, einst verlässliche Verbündete des Westens, sind heute die Feinde. Mark Thörner, der Autor, zitiert aus einem Buch mit Rechenaufgaben aus dieser Zeit: »Eine Gruppe Mudschaheddin greift 50 Russen an. Bei dem Angriff werden 20 Russen getötet. Wie viele Russen sind geflohen?« oder, um bei dieser Preisgüte US-amerikanischer Rechenfertigkeit zu bleiben: »Die Geschwindigkeit eines Kalaschnikowgeschosses beträgt 800 Meter pro Sekunde. Ein Russe befindet sich in 3200 Meter Entfernung von einem Mudschahedin, und dieser Mudschaheddin zielt auf den Kopf des Russen. Errechne, wie viele Sekunden vergehen, bis die Kugel die Stirn des Russen trifft.« Dieser Hass wurde als »westliche Werte« verbreitet und jungen Menschen in Afghanistan eingeimpft. So etwas schlägt zurück, und auf alten Hass türmt sich neuer.

Neu ist die Betrachtungsweise in dem Buch, den Afghanistankrieg mit anderen, kolonialen Kriegen zu vergleichen. Nicht gleichzusetzen, sondern zu vergleichen. Herangezogen wird der Algerienkrieg und das Vorgehen der französischen Truppen in Algerien; sozusagen die Blaupause für den Einsatz in Afghanistan. Der Afghanistankrieg als ein spätkolonialer Krieg. Dieser Blickwinkel ist wichtig, um richtig zu erfassen, was in Afghanistan vor sich geht und warum.

Mark Thörner: Afghanistan Code. Eine Reportage über Krieg und Fundamentalismus. Edition Nautilus, Hamburg 2010. 155 S., br., 16 €; ISBN: 3894016078

* Aus: Neues Deutschland, 17. März 2010 (Beilage zur Leipziger Buchmesse)


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