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In Afghanistan eskaliert der Terror

Militärische Fehleinschätzungen werden der USA-geführten Koalition zunehmend zum Verhängnis

Von Elke Windisch, Moskau

Mindestens 26 Menschen fanden allein am Montag bei Selbstmordattentaten in Afghanistan den Tod. Beobachter sprechen vom blutigsten Tag seit dem »militärischen Sieg« über die Taliban im Dezember 2001.

Die Begriffswahl »militärischer Sieg« ist irreführend und beweist die katastrophale Fehleinschätzung der Lage am Hindukusch durch die »Anti-Terror-Koalition« unter Führung der USA. Statt sich und dem Rest der Welt aus innenpolitischen Erwägungen heraus Sand in die Augen zu streuen, wäre die Regierung von Präsident George W. Bush gut beraten, den Tatsachen nüchtern ins Auge zu sehen und konstruktive Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Feldschlachten unter Einsatz größerer Truppenverbände haben in Afghanistan Seltenheitswert. Gekämpft wird bei den zahllosen ethnischen und religiösen Konflikten seit Jahrhunderten mit Guerilla-Taktik: Anschläge, Entführungen, zeitweilige Bündnisse mit häufigem Frontwechsel der Protagonisten – auch im Bürgerkrieg und während der Taliban-Zeit. Fernsehbilder von der »Front«, die Kämpfer der Nordallianz beim »Sturm« auf Stellungen der Taliban zeigten, waren bis zur Intervention der Anti- Terror-Koalition fast immer gestellt.

Erst Washingtons Einmarsch und die USA-Luftunterstützung für die Nordallianz zwangen diese wie die Taliban zu größeren Gefechten. Eben diese erklären auch der Taliban rasches »militärisches Ende«. Diesen Begriff verwendet die Mehrheit der Experten – zu Recht – an Stelle von »Sieg«, denn davon kann nicht die Rede sein.

Um Verluste zu vermeiden, zogen sich Taliban und Al Qaida, als ihre Festung Tora-Bora nicht mehr zu halten war, in die Grenzregionen zu Pakistan zurück – fast unzugängliches Gebiet, wo moderne Waffen nahezu chancenlos sind. Der Rückzug erfolgte mehr oder minder geordnet, was auch daran zu erkennen ist, dass die Taliban sich alsbald wieder formieren, Allianzen mit neuen Verbündeten schließen und den Guerillakrieg in jene Regionen zurücktragen konnten, die als befreit galten. Zum Beispiel nach Kandahar – einer der Schauplätze der Anschläge am Montag.

Vergleiche zum Afghanistan-Abenteuer der Sowjetunion drängen sich auf. Mit eben jener Eskalation des Guerillakriegs, den die USA und ihre Marionette Hamid Karsai gegenwärtig voller Sorge beobachten, sah sich schon die Sowjetarmee in dem Moment konfrontiert, als sie ernsthaft versuchte, die Macht der damaligen Regierung unter Babrak Karmal in Kabul auf das flache Land auszudehnen und den Widerstand der Mudschahedin zu brechen. 1982 war für Moskau der Anfang vom Ende in Afghanistan, 2006 könnte es für Washington werden. Denn die Stimmung hat sich gedreht. Damals wie heute.

Es ist kein Propaganda-Märchen, dass die Panzer mit dem roten Stern seinerzeit in mehreren afghanischen Dörfern ebenso mit Blumen begrüßt wurden wie später die westliche Anti-Terror- Koalition. Dass diese wie jene in kurzer Zeit als Besatzer und ungebetene Gäste empfunden wurden, liegt vor allem daran, dass sie versuchten, den afghanischen Knoten mit untauglichen Mitteln aufzudröseln. Teils aus mangelnder Kenntnis von Realitäten und Geschichte, teils aus innenpolitischen Erwägungen. Es ist verbürgt, dass Afghanistan-Experten des KGB den Kreml auf Fehler hinwiesen und vor den Folgen warnten. Sollte es bei der CIA überhaupt keine Experten geben? Verschärfend kommt für Washington inzwischen der Irak-Krieg hinzu, den viele Afghanen als Angriff auf den Islam und ihre Glaubensbrüder sehen. Zudem machen die für Washington katastrophalen Entwicklungen im Zweistromland den afghanischen Extremisten Mut. Offenbar findet – wohl über Pakistan – zwischen beiden Gruppen ein Austausch statt. Dafür sprechen die Selbstmordanschläge, die in Afghanistan bisher so gut wie unbekannt waren.

Nicht zuletzt bringt die Möglichkeit, dass Washington gegen das benachbarte Iran Gewalt anwendet, den Terror in Afghanistan auf Hochtouren.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2006


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