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Die Talibanisierung der Gesellschaft schreitet täglich voran

Der britisch-pakistanische Publizist Ahmed Rashid zur Bilanz des Antiterror-Kriegs in Afghanistan und Pakistan *


Ahmed Rashid, Pakistans berühmtester Journalist, ist einer der besten Kenner der gesellschaftlichen und politischen Situation in Pakistan und Afghanistan. Seit den 1990er Jahren veröffentlichte er zahlreiche Standardwerke über die Region. Sein Buch »Taliban – Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad« aus dem Jahr 2000 avancierte zum Bestseller. Zuletzt erschien »Am Abgrund – Pakistan, Afghanistan und der Westen«, worin Rashid vor einer dramatischen politischen, ökonomischen, und gesellschaftlichen Krise in der Region warnt. Mit dem 65-Jährigen sprach Michael Briefs.


Sie schildern in Ihrem letzten Buch neben Pakistan auch Afghanistan als »Am Abgrund« stehend, also vor dem Sturz in Anarchie und Bürgerkrieg. Ist die Lage so dramatisch?

Die Situation in Afghanistan ist wenige Monate vor dem Truppenabzug sehr angespannt. Im April 2014 finden Präsidentschaftswahlen statt und dann wird sich zeigen, ob die afghanische Armee in der Lage ist, den Konflikt mit den Taliban zu lösen, sollten diese etwa freie und faire Wahlen sabotieren. Hinzu kommt das Problem der Nachbarstaaten, die das Land nicht unterstützen, sondern aus eigenen strategischen Machtinteressen destabilisieren. Alle diese destruktiven Kräfte sind am Werk. Und das sind die Probleme der Afghanen. Entscheidend wird sein, wie viele westliche Soldaten im Land verbleiben. Die Afghanen warten auf Zahlen, aber auch die Taliban.

Wie ist die Situation in Pakistan? Bekommt Pakistan die militanten Islamisten unter Kontrolle?

Wir haben gleich drei Aufstände – anders als in Afghanistan, wo es allein um den Machtkampf Regierung gegen Taliban geht. In Pakistan haben wir Aufstände im Nordwesten, da sind die Taliban konzentriert, die versuchen, die Scharia einzuführen und den Staat zu stürzen. Dann gibt es eine separatistische Bewegung in Belutschistan, auch an der Grenze zu Afghanistan gelegen. Dort kämpft eine säkulare Bewegung mit der Forderung nach einem eigenständigen Staat. Und es gibt Aufstände in Karatschi, wo 20 Millionen Menschen in einer Stadt mit Extremisten aller Schattierungen leben. Niemand hat die jahrzehntelangen Gewaltexzesse bislang in den Griff bekommen.

Mittlerweile ist klar, dass es Frieden in Afghanistan ohne Berücksichtigung der Nachbarländer nicht gibt. Was kann die neue demokratisch gewählte Regierung in Islamabad gegen die Militanz im eigenen Land tun?

Präsident Nawaz Sharif kämpft gegen eine enorme Wirtschaftskrise an, Elektrizität wird knapp. Industrie, Bildung und Gesundheitsversorgung leiden schwer darunter. Indes schreitet die Talibanisierung der Gesellschaft tagtäglich voran. Mit Todesdrohungen, Kidnappings und Morden. Das betrifft vor allem Journalisten, die in Pakistan über den radikalen Islamismus berichten. Die jahrzehntelangen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten haben sich verschärft. Die Intoleranz gegenüber Nicht-Muslimen breitet sich in der Region immer weiter aus. Als ich geboren wurde, lebten in Pakistan 23 Prozent Nicht-Muslime. Heute sind es nur noch drei Prozent. So viele haben Asyl im Ausland gesucht, das ist zutiefst erschütternd.

Sie leben in Lahore, dem kulturellen Zentrum Pakistans. Wie kann ein Journalist überhaupt in dieser hoffnungslosen Lage arbeiten?

Zu meinem Schutz und dem meiner Familie sind viele Sicherheitsleute im Einsatz und ich kann mich nur sehr eingeschränkt im Land bewegen. Ich bin in Lahore aufgewachsen, damals hatte die Stadt zwei Millionen Einwohner. Heute sind es bis zu 14 Millionen. Die Lebensqualität hat sich sehr verschlechtert. Der ständige Wechsel zwischen längeren Phasen der Militärherrschaft und demokratischen Perioden hat dazu geführt, dass es hier in Lahore langsam mit der Kultur bergab geht.

Nochmals die Frage, was die Pakistaner gegen die Gewalt tun können.

Mein Buch ist eine Aufforderung an junge pakistanische Akademiker, politisch aktiv zu werden. Noch ist Zeit, aber wenn sich der Sektenradikalismus weiter verschärft, könnte das Land im Bürgerkrieg versinken. Die Schuld liegt bei den korrupten Eliten, das 700 000 Mann starke Militär ist allmächtig und schluckt neben den drei Milliarden Dollar US-Militärhilfe jährlich mehr als 35 Prozent des Staatshaushalts. Die Geheimdienste treiben ein doppeltes Spiel und unterstützen insgeheim die Extremisten. Nicht auszudenken, wenn diese in den Besitz der Atom- und der vielen chemischen Waffen im Land kommen. Dem muss die Politik endlich Rechnung tragen.

Wie verhalten sich in dieser Gemengelage die Taliban? Sie haben Gespräche mit vielen ihrer Anführer geführt?

Die Führungsriege der Taliban besteht zu einem Teil noch aus Kämpfern, mit denen ich in den 1990er Jahren gesprochen habe, als ich mein erstes Buch über die Taliban schrieb. Heute liegt die Macht in Händen von jüngeren, viel radikaleren Kommandeuren. Sie torpedieren den Friedensprozess. Beide gehören der einen Bewegung an, aber es gibt einen Machtkampf zwischen Hardlinern und eher moderaten Kräften.

Vor einem Jahr gab es Verhandlungen zwischen Aufständischen und den USA. Mit wem wurde in Katar verhandelt, mit afghanischen oder pakistanischen Taliban und worin unterscheiden sich beide Gruppen?

Die afghanischen Taliban hatten vor 9/11 fast das ganze Land regiert. Auch wenn uns ihre rigide Auslegung des Islam und ihr brutales Vorgehen gegen Frauen und Kulturgüter missfällt, unter ihrem religiösen Führer Mullah Omar waren sie straff organisiert. Die pakistanischen Taliban sind dagegen in Fraktionen aufgespalten. Es gibt keine zentrale Führungspersönlichkeit, keine einheitliche Organisation. Sie sind weitaus radikaler, aber auch anfälliger für Krisen und Gespräche mit ihnen sind nicht möglich. Ihr Extremismus wird von wahhabitischen Arabern, von Al-Qaida und der Ideologie eines globalen Dschihad angefeuert. Die afghanischen Taliban verfolgten bislang dagegen rein nationale Ziele und wollen den Dschihad nicht nach Deutschland oder Großbritannien exportieren. Leider haben Pakistan und die USA verhindert, dass Präsident Karsai mit ihnen verhandelt.

Welche Rolle übernimmt die deutsche Politik bei der Suche nach einer Friedenslösung?

Stimmt, das deutsche Außenministerium hatte sich der Sache angenommen. In Doha in Katar wurde daraufhin ein Büro eröffnet und Taliban, Deutsche, US-Amerikaner und Vertreter Katars trafen sich dort mehrfach zu Verhandlungen. Man war drauf und dran herauszufinden, wo Taliban und USA zu Konzessionen bereit sind. Leider wurden die Gespräche im letzten Jahr wegen Vorbehalten des US-Verteidigungsministeriums, aber auch seitens des Präsidenten Karsai abgebrochen. Weitere Verhandlungen werden wohl erst nach den afghanischen Präsidentschaftswahlen möglich sein.

Was erwarten Sie von der kommenden Regierung in Afghanistan? Karsai darf ja nicht mehr zur Wahl antreten.

Ich hoffe, der neue afghanische Präsident geht hart gegen die Korruption im Land vor, auch gegen inkompetente Staatsbeamte, und verteilt die Hilfsgelder nach vernünftigen Kriterien, damit der Aufbau der Wirtschaft und eines funktionierenden Gesundheits- und Bildungssystems vorankommt. Daher muss der Westen seine Zusage zu Hilfszahlungen auch an Bedingungen knüpfen und auf freien und fairen Wahlen bestehen. Es geht nicht mehr darum, wer den Krieg gewinnt, sondern einzig darum, wie man einen politischen Übergangsprozess gestaltet.

Woraus speist sich die Stimmung vieler Afghanen, die sagen, der Westen solle sich besser ganz aus dem Land heraushalten?

Eine Okkupation kann nicht ewig dauern und 13 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Die USA hatten ab 2009 zur Terrorbekämpfung 100 000 Soldaten in Afghanistan stationiert. So wollten sie die Bevölkerung vor den Taliban schützen. Leider hat das nie funktioniert. Dazu braucht man mindestens eine halbe Million Soldaten. Der anschließende Krieg gegen Irak verhinderte ein solches Engagement der USA. Die Aufholjagd mit dem Einsatz von Kriegsdrohnen endete in einem großen Desaster. Die technologische Wunderwaffe der USA ist zum Ersatz für eine neue vernünftige politische Strategie verkommen. Der Westen muss jetzt klipp und klar sagen, dass er das Land und den zivilen Aufbau weitere fünf bis zehn Jahre finanziell unterstützt. Diese Frage ist noch nicht geklärt. Es gibt zwar Anzeichen für weitere Hilfe, aber die Finanzkrisen in Europa und den USA könnten dazu führen, dass keine Gelder mehr bewilligt werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 19. November 2013


Islamisten warnen Abgeordnete

Loya Jirga in Kabul tagt zu künftigem Truppenstatut

Von Thomas Ruttig **


Am Donnerstag wird in Kabul eine Loya Jirga zusammentreten, um über ein bilaterales Sicherheitsabkommen zu beraten, auf dessen Grundlage US-Soldaten auch nach dem Ende der ISAF-Mission Ende 2014 in dem Land stationiert würden. Die Loya Jirga, eine für Afghanistan traditionelle Volksversammlung, tritt laut Verfassung in »für die Nation« überlebenswichtigen Situationen zusammen. Das ist mit dem bevorstehenden Abzug der NATO-Kampftruppen im nächsten Jahr gegeben.

Dazu werden für voraussichtlich drei Tage 3000 Delegierte aus allen Landesteilen, ethnischen und sozialen Gruppen erwartet – von Stammesältesten bis zu Aktivisten der Zivilgesellschaft und Frauen. Sie wurden über eine Vorbereitungskommission sowie die Gouverneure der 34 Provinzen ausgewählt. Sowohl die Kommission als auch die Gouverneure werden von Präsident Hamid Karsai ernannt, der damit über erhebliche Kontrolle über die Zusammensetzung des Gremiums verfügt.

Das hat bereits Karsais innenpolitische Gegner auf den Plan gerufen, die die Jirga als manipuliert und verfassungswidrig bezeichnen. Offiziell heißt die Versammlung nun »Konsultative Loya Jirga«. Oppositionelle Gruppen sowie einige Senatoren drohen mit Boykott – obwohl sie grundsätzlich einen Verbleib von US-Truppen unterstützen. Aber auch radikalfundamentalistische Gruppen mobilisieren, die die US-Truppen aus dem Land haben wollen. Damit liegen sie auf der gleichen Wellenlänge wie die beiden größten bewaffneten Anti-Karsai-Bewegungen: die Taliban und die Islamische Partei des berüchtigten ehemaligen Mudschahedinführers und Regierungschefs Gulbuddin Hekmatyar.

Karsais Regierung und Washington verhandeln bereits seit Monaten über das Abkommen. Als Hauptstreitpunkt galt bisher, dass Kabul den im Lande stationierten US-Soldaten Immunität gegenüber der afghanischen Gerichtsbarkeit garantieren soll. Das ist für viele Afghanen schwer hinnehmbar, weil es bei US-Militäroperationen immer wieder zu Opfern in der zivilen Bevölkerung gekommen ist. Nach dem jüngsten Besuch von US-Außenminister John Kerry in Kabul verbreitete vor allem die US-Seite Optimismus, dass ein beiderseits akzeptabler Text vorliege.

Am Montag aber berichtete die »New York Times«, hochrangige afghanische Offizielle bestritten, dass in Sachen Immunität Einigkeit bestehe; genauso in der Frage, ob US-Truppen »in Extremsituationen« allein operieren dürften. Für Washington entscheidet vor allem die Immunitätsfrage darüber, ob man Truppen in Afghanistan stationieren wird oder nicht. Karsai, dessen Präsidentschaft zu Ende geht, will den Verbleib der US-Soldaten, allerdings zu seinen Bedingungen. Er weiß, dass seine Regierung alles andere als stabil ist und die afghanischen Streitkräfte bis mindestens 2017 jährlich vier Milliarden Dollar benötigen. Washington will bisher mehr als die Hälfte übernehmen, der Rest soll von anderen Verbündeten kommen. Aber ohne rin Sicherheitsabkommen wird der US-Kongress die Mittel wohl kaum freigeben.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 19. November 2013


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