"Was die da treiben, weiß ich bis heute nicht"
Hans-Christian Ströbele (Grüne) im Gespräch über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan *
Hans-Christian Ströbele ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender
der Grünen im Bundestag. Die Beteiligung der Bundeswehr am Kampfeinsatz
in Afghanistan (»Operation Enduring Freedom«) lehnte er stets ab. Über
Anfragen an die Bundesregierung und auf juristischem Wege versucht er
seit langem hartnäckig, konkrete Informationen über den Krieg zu
erhalten. Mit Ströbele sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Regina
Stötzel.
ND: Haben Sie die Informationen von WikiLeaks überrascht?
Ströbele: Im Kern nicht, in Einzelheiten schon. Ich habe vieles geahnt
und einiges gewusst von dem, was die US-Truppen dort treiben. Jetzt
haben wir es Schwarz auf Weiß.
Wussten Sie von der deutschen Beteiligung bei der Erstellung sogenannter
Abschusslisten?
Ja, dazu habe ich seit November eine Reihe von Fragen an die
Bundesregierung gerichtet. Erst im Juni wurde mir mitgeteilt, dass seit
Juni 2009 acht Personen für die Listen der NATO vorgeschlagen wurden und
zwei danach getötet wurden. Das war für mich eine Bestätigung mündlicher
Berichte.
Sie sagten schon vor Jahren, der Krieg sei »schmutzig«. Welche
Informationen hatten Sie da ?
Wir hatten immer wieder Informationen, beispielsweise dass die USA auf
der Grundlage von Denunziationen Hochzeitsgesellschaften bombardierten,
und da gab es bis zu 76 Tote. Viele waren Frauen und Kinder und keine
Taliban. Hintergrund der Denunziation soll ein Eifersuchtsstreit gewesen
sein.
Gab es Informationen über das Kommando Spezialkräfte?
Wir haben sehr schleppend Informationen erhalten. Was die da im
Einzelnen getrieben haben, weiß ich bis heute nicht. Etwa im letzten
Oktober habe ich von der neuen Einheit der Bundeswehr erfahren, der Task
Force 47, und von der US-Einheit TF 373. Auch dazu habe ich
parlamentarische Anfragen gestellt. Und ich habe einiges von TF
47-Leuten erfahren, als ich selbst im April 2010 in Afghanistan war.
Aber was die genau treiben und ob sie auch töten, habe ich nicht
herausbekommen.
Der »Spiegel« schreibt, Deutschland habe sich »kenntnislos und naiv« in
den Krieg hinein begeben. Würden Sie das auch Ihren Parteikollegen
vorwerfen, die damals den Einsatz befürwortet haben?
Uns im Bundestag ist der ISAF-Einsatz jahrelang als
Stabilisierungsmaßnahme verkauft worden. Inzwischen laufen über 90
Prozent aller militärischen Aktionen über ISAF. Ich zweifele an, dass
alles, wovon wir jetzt erfahren haben, durch das ISAF-Mandat gedeckt
ist. Wenn Deutschland bei den gezielten Tötungen dabei wäre, wäre das
sicher verfassungswidrig.
Wenn die Grünen jetzt für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan
plädieren, ist das also weniger ein Zeichen dafür, dass sie wieder der
parlamentarische Arm der Friedensbewegung werden?
Die Grünen haben ihre Position stark verändert. Das ist durch den
Göttinger Parteitag, der von der Basis erzwungen wurde, eingeleitet
worden. Zuletzt hat die Mehrheit der Grünen den ISAF-Einsatz nicht mehr
befürwortet. 21 Abgeordnete haben mit Nein gestimmt, die anderen haben
sich überwiegend enthalten. Ich hoffe, wir werden nächstes Mal klar mit
Nein stimmen. Meine Forderung ist, den Krieg in verantwortungsvoller
Weise zu beenden: sofort alle Offensivmaßnahmen einstellen und
Verhandlungen beginnen - auch mit Aufständischen, die kämpfen.
Sie haben geschrieben, dass Sie die jetzige Regierung nicht für
»kooperationsfähig« halten. Wie sollen dann Verhandlungen mit den
Taliban funktionieren?
Ich habe große Zweifel, dass Karzai ernsthafte Verhandlungen führt. Er
ist aber auch nur von rund 14 Prozent der Bevölkerung gewählt worden. Er
ist nicht der anerkannte Vertreter des afghanischen Volkes. Er ist ein
Machtfaktor, aber die entscheidenden Kräfte sind natürlich die USA und
die NATO. Alle müssen verhandeln. Die Deutschen müssen im Norden
verhandeln, und die USA dürfen mit ihren gezielten Tötungen nicht alles
wieder kaputtmachen.
Sie sagen, dass man auch die, die auf diesen Listen stehen, für
Verhandlungen braucht.
Ja, in der jetzigen Situation sehen diese Personen aber keine Grundlage
dafür. Sie wissen, wenn sie irgendwo den Kopf herausstrecken, kommt eine
Drohne und liquidiert sie.
Aber die haben ja wohl üble Sachen gemacht, bevor sie auf den Listen
standen.
Trotzdem, wir haben die Todesstrafe von Verfassung wegen abgeschafft.
Und wie kommt man auf eine Killing-Liste? Durch ein Gerichtsurteil? Oder
hat nur jemand gesagt, ich weiß da einen, der ist auch Taliban-Führer?
Das kam immer wieder vor. Nicht alle Aufständischen sind Taliban, da
sind viele dabei, die nicht religiös motiviert sind. Man muss beginnen,
dezentral zu verhandeln über einen Waffenstillstand. Dafür braucht man
die Gegenseite, und zwar die, die Waffen einsetzt. Dann muss man darüber
sprechen, wie eine Friedenslösung aussieht. Ich habe sie auch nicht,
aber sie kann nur aus Verhandlungen kommen.
* Aus: Neues Deutschland, 5. August 2010
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