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Wo ist die Afghanistan-Strategie der USA?

Von Pjotr Gontscharow *

Barack Obama hat den US-Kongress am Donnerstag um weitere 83,4 Milliarden Dollar für die Einsätze in Afghanistan und im Irak gebeten.

Die Summe mag nicht so hoch erscheinen, schließlich geht sie nicht über den Jahreshaushalt eines kleineren Staates hinaus. Doch nach allem zu urteilen, werden die USA auch weiterhin Geld in ihre neue Afghanistan-Strategie stecken.

Wer soll denn auch zahlen, wenn nicht Amerika? Seine europäischen Verbündeten in Afghanistan verhalten sich eher passiv, auch bei der neuen Strategie. Auf ihrem jüngsten Treffen probierte die Nato den auf Obama zugeschnittenen neuen afghanischen Kaftan an, wirkte dabei jedoch nicht übermäßig glücklich.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erklärte zwar: "Ich bewundere Obamas neue Strategie und ihre 'Afghanisierung'." Es stimmt, Sarkozy hat bisher noch niemandem das Recht abgetreten, als erster US-Initiativen zu bewundern. Worauf oder, wenn man will, woraus nichts folgt.

Auch jetzt verspricht Sarkozy dem US-Präsidenten, gemäß der neuen Strategie nach Afghanistan französische Ausbilder für afghanische Polizisten zu entsenden. Obama rechnete mit mehr.

Die USA verbargen ihre Hoffnungen nicht, dass ihre europäischen Nato-Kollegen schließlich ihrer Forderung Gehör schenken, die eigenen Truppenkontingente in Afghanistan zu vergrößern. Sonst könnte die "neue Strategie" der USA wie eine Seifenblase zerplatzen.

Nun stellt sich heraus, dass die Führer der Nato-Staaten beschlossen haben, zusätzliche Truppen zur Gewährleistung der Sicherheit während der Wahlen in Afghanistan und zur Ausbildung der afghanischen Soldaten zu entsenden.

Dieser den USA von Europa beim Gipfel versprochene Nachschub wird etwa 3000 Mann zählen, darunter 900 britische, 600 deutsche und 600 spanische Soldaten. Sie sollen für die Sicherheit bei den Wahlen sorgen. Und dann wahrscheinlich gehen.

Weitere 1400 bis 2000 Militärangehörige, alles in allem 70 Einheiten, sollen zur Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei beitragen.

Eine solche "Verstärkung" genügt offensichtlich nicht, um in Afghanistan die Stabilität zu sichern. Zumal sowohl Washington als auch Kabul beabsichtigen, 2009 zu einem Jahr des "großen Umbruchs" zu machen bei ihren Anstrengungen zur Eindämmung des bewaffneten Widerstands und zur Festigung der heutigen Regierung in Kabul.

Die „afghanische Komponente“ in der Nato wirkte beim Gipfel der Allianz unbestimmt. Weshalb? In vieler Hinsicht wohl deshalb, weil sich in den Details und konkreten Aspekten der "neuen Strategie" in Wahrheit nur die USA allein auskennen.

Für diese "Unbestimmtheit" der neuen Strategie sorgte niemand anders als ihr Urheber, der genau eine Woche vor dem Gipfel in einer seiner Ansprachen erklärte: "Möglicherweise werden wir das regionale diplomatische Vorgehen in höherem Grade anwenden müssen. Möglicherweise werden wir unsere Handlungen mit unseren Verbündeten effektiver koordinieren müssen."

Diese Erklärung (wie auch alle sonstigen) klärt nicht darüber auf, in welchem Format die USA beabsichtigen, das von ihnen verkündete "regionale Vorgehen" an die Lösung des Afghanistan-Konflikts zu realisieren.

Moskau zum Beispiel wird wohl kaum damit zufrieden sein, dass Washington Russland neben China und Indien in die Kontaktgruppe für Pakistan und Afghanistan drängen will. Moskau will an der Lösung der Afghanistan-Frage ganz Zentralasien in Form der SOZ (Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit) beteiligt sehen. Rein theoretisch sollten das auch die USA anstreben.

Aber beim Nato-Gipfel kam diese Frage nicht zur Sprache - nach allem zu urteilen, war das kein Zufall, wenn man bedenkt, dass die Nato die Rolle der SOZ in Afghanistan höchstens bei Wirtschaftsprojekten akzeptabel fand. Nichts spricht für die Annahme, dass diese schmale Sichtweise breiter geworden sei.

Was die europäischen Verbündeten der USA angeht, so reagieren sie auf die Aufrufe zu aktiveren Schritten in Afghanistan kaum, denn über diese Frage entscheiden nicht so sehr die nationalen Oberbefehlshaber wie vielmehr die nationalen Parlamente. Diese aber sind wie auch sonst über jeden Krieg verärgert, weil die Wähler sie ablehnen.

Somit tragen die USA die Last des Afghanistan-Kriegs vorläufig allein, weshalb zusätzliche Milliarden bereitgestellt werden. Wo ist aber eine neue Strategie? Sie müsse "komplex" sein, heißt aus Obamas Umgebung, und auf dem Wiederaufbau der afghanischen Wirtschaft beruhen.

Aber auch in der Frage könnten sich Russland und seine Nachbarn in Zentralasien als die konsequentesten Verbündeten der USA zeigen. Denn es ist ein im Voraus verlorenes Spiel, die afghanische Wirtschaft losgelöst von den Wirtschaften der Nachbarländer wiederaufzubauen.

Afghanistans Wirtschaft ist an die Wirtschaften seiner Nachbarn angepasst: seine östlichen und südlichen Provinzen an Pakistan, die westlichen an Iran und die nördlichen an die zentralasiatischen Republiken. Darauf verwies bereits der Autor des Projekts "Partnerschaft für Groß-Zentralasien", Frederick Starr.

Von der Notwendigkeit, "die Rolle des regionalen Faktors bei den Regelungsprozessen wesentlich zu verstärken", das heißt Afghanistans Nachbarn nicht nur in die Realisierung der einen oder anderen Politik, sondern auch in die Teilnahme an der Ausarbeitung der Politik als solche einzuschalten, sprach vor wenigen Tagen Russlands Außenminister Sergej Lawrow.

Theoretisch sieht die neue Strategie beziehungsweise die "Strategie des Rückzugs" für alle attraktiv aus. Selbst für die Nato. Ihr Sinn liegt in dem Satz: "Wir machen Afghanistan zu einem normalen Land und gehen."

Übrig bleibt nur eine Kleinigkeit: Konkrete Wege dazu zu finden, dass Afghanistan ein normales Land wird. Ohne sie gibt es soweit keine Strategie.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti; 10. April 200), http://de.rian.ru


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