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Unterschiedliche Wahrnehmungen der Sicherheitslage in Afghanistan

Außenminister: Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert - Aber: "Fortschritte beim Aufbau der Sicherheitskräfte"


Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zog eine trübe Bilanz des Wiederaufbaus in Afghanistan, einerseits. Andererseits meinte er bedeutende Fortschritte beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu sehen. Es kommt offenbar ganz darauf an, wer etwas mit welchen Augen und zu welchen Zwecken betrachtet. - Wir dokumentieren zunächst einen Artikel aus dem "Neuen Deutschland" und im Anschluss die amtliche Sicht der Dinge durch das Außenministerium.

Steinmeier zieht trübe Bilanz

Außenminister: Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert

Berlin/Kabul (Agenturen/ND). Die Fortschritte etwa im Westen Afghanistans oder im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr im Norden seien selbst für den Laien erkennbar, behauptete Steinmeier am Montag zum Resümee seiner viertägigen Afghanistan-Reise bei der Ankunft in Berlin. Zugleich dürfe aber nicht verschwiegen werden, dass die Sicherheitslage nicht nur unbefriedigend sei, sondern sich im vergangenen Jahr sogar verschlechtert habe, räumte der SPD-Politiker ein. Einen Grund dafür sieht Steinmeier im Verhalten des Nachbarlandes Pakistan. Ein gedeihliches Verhältnis zwischen Kabul und Islamabad sei notwendig, damit von Pakistan aus nicht weitere islamistische Gewalttäter über die Grenze nach Afghanistan eindringen könnten. »Deshalb auch unsere Mahnung an Pakistan, den entschiedenen Kampf gegen den Terrorismus wieder aufzunehmen. Auch das ist ein notwendiger Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans.«

Allerdings habe laut dem Minister auch die afghanische Regierung nicht genug getan, um das Land zu stabilisieren. Es gebe »Defizite« bei der Bekämpfung von Korruption und Drogen. Afghanistan deckt durch den Schlafmohn-Anbau immerhin mehr als 90 Prozent des Weltmarktes für Opium, dem Grundstoff für Heroin. »Wir sehen aber auch eigene Defizite in der internationalen Staatengemeinschaft«, sagte Steinmeier. »Wir hängen zurück beim Aufbau der Sicherheitskräfte in Afghanistan.«

Steinmeier hatte auf seiner dritten Afghanistan-Reise zunächst das kulturelle Zentrum des Landes, die Stadt Herat im Westen, besucht. Dort übergab er eine Wasserversorgungsanlage an die Kommune und besichtigte von Deutschland geförderte Kulturprojekte. Anschließend führte er in Kabul Gespräche mit der Staatsführung und machte abschließend bis Montagfrüh einen Bundeswehrbesuch in Masar-i-Scharif.

Unterdessen haben Soldaten der internationalen Schutztruppe ISAF in der südafghanischen Provinz Kandahar zwei Kinder erschossen. Wie die NATO-geführte ISAF am Montag mitteilte, wurde ein weiterer Zivilist verletzt. Den Angaben zufolge war der Wagen der Zivilisten auf eine Kontrollstelle der ISAF zugefahren. Nachdem der Fahrer sein Auto trotz mehrfacher Aufforderungen nicht angehalten habe, hätten die Soldaten auf das Fahrzeug geschossen. Die ISAF bedauerte in einer Mitteilung den »unnötigen Vorfall«, zu dem das leichtsinnige Verhalten des Fahrers geführt habe. Die Hintergründe würden untersucht. Erst am Sonnabend waren in Kandahars Nachbarprovinz Helmand vier Zivilisten bei einem ähnlichen Vorfall von ISAF-Soldaten erschossen worden.

Durch eine in Afghanistan abgefeuerte Rakete sind in der pakistanischen Region Südwasiristan am Montagmorgen mindestens sechs Menschen getötet worden. Die Rakete habe ein Haus nahe einer Moschee in dem Dorf Asam Warsak getroffen, sagte ein Sicherheitsbeamter. Demnach wurden zudem drei weitere Menschen verletzt. Es sei unklar, ob der Beschuss durch die Taliban oder US-Truppen erfolgte. Anwohner berichteten, das getroffene Haus habe einem lokalen Stammesvertreter gehört.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2008


Und das sagt das Außenministerium:

Fortschritte beim Aufbau der Sicherheitskräfte **

Afghanistan braucht dringend gut ausgebildete Polizisten und Soldaten. Auf der dritten Station seiner Afghanistanreise informierte sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier über die deutsche Unterstützung für die Sicherheitskräfte. Er legte den Grundstein für ein Trainingszentrum für die afghanische Polizei, mit dem Deutschland seine Ausbildungsanstrengungen verstärkt.

Steinmeier sieht Fortschritte bei der Ausbildung und Reform der afghanischen Polizei und des Militärs - trotz schwieriger Ausgangsbedingungen. "Wir folgen hier dem richtigen Konzept", sagte er in Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans. Ziel sei, dass die afghanische Regierung selbst Sicherheit im Land garantieren könne.

Steinmeier äußerte sich besorgt über die verschlechterten Rahmenbedingungen: Die Sicherheitslage könne nur verbessert werden, wenn sich das Land in "einem einigermaßen gesunden Umfeld" entwickle. "Es ist Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, Pakistan zurück zu gewinnen für einen engagierten Kampf gegen den islamistischen Terrorismus".

Neues Trainingszentrum verstärkt Ausbildungsanstrengungen

In Masar-i-Scharif legte der Bundesaußenminister zusammen mit dem Provinzgouverneur Mohammad Atta den Grundstein für ein richtungsweisendes Projekt: Ein neues Trainungszentrum soll ein Schwerpunkt für Polizeiausbildung im Norden werden. Dort werden deutsche Experten bis zu 200 afghanische Polizistinnen und Polizisten schulen.

Ziel ist, die Ausbildung der afghanischen Polizei in der Fläche, in den Distrikten, zu verstärken. Das Ausbildungskonzept wird sich an das US-amerikanische Modell des "Focused District Development Programme" (FDD) anlehnen. Die ersten Kurse in dem Trainingszentrum sollen bereits im September beginnen.



FDD-Programm.
'Focused District Development' teilt sich in mehrere Phasen auf. Zunächst werden die Ausbildungsbedürfnisse eines Distrikts ermittelt. Daraufhin erhalten die Polizisten eine mehrwöchige Ausbildung, für die unter anderem das deutsche Trainingszentrum gedacht ist. Das Curriculum wird dabei jeweils an die Bedürfnisse angepasst, die die Evaluierung ergeben hat.

Während dieser Zeit werden die Aufgaben der Polizisten in dem betreffenden Distrikt von der afghanischen Bereitschaftspolizei (ANCOP) übernommen, so dass es nicht zu einem Sicherheitsvakuum kommen kann. Nach der Rückkehr auf ihre Posten werden die Polizisten für eine gewisse Zeit dort weiterhin begleitet, um das neu gewonnene Wissen auch in der Praxis anwenden zu können



Breit gefächerte Unterstützung

Steinmeier nahm sich Zeit, um sich über die breit gefächerten deutschen Aktivitäten zur Unterstützung von afghanischer Polizei und Armee zu informieren. Afghanische Polizeirekruten führten ihm ganz praktisch vor, was sie bereits gelernt haben: Ihre deutschen Polizei-Ausbilder übernahmen die Rolle von Randalierern - die Polizisten zeigten, wie man deeskaliert.

Im Gespräch berichteten ihm deutsche Polizeitraininer von ihrer Arbeit und den besonderen Herausforderungen. Der Leiter des deutschen Polizeiprojektteams, Jürgen Hauber, wies auf die hohe Rate an Analphabeten hin, die eines der Hauptprobleme sei. Aktuell seien unter 111 Lehrgangsteilnehmern 88 Analphabeten.

Bereits am Vortag hatte sich Steinmeier in Kabul über den Stand der im Juni 2007 gestarteten EU-Polizeimission informieren lassen. Er traf mit dem deutschen Leiter der EU-Polizeimission, Jürgen Scholz, zusammen. Auch der hatte darauf hingewiesen, dass es vor allem bei de den einfachen Polizisten Probleme gebe.



Deutschland ist am Polizeiaufbau seit 2002 führend beteiligt und baut sein Engagement stetig aus. Ziel ist eine professionelle Polizei, die ihre Aufgaben flächendeckend ausüben kann und der die Menschen vertrauen. Das deutsche Engagement ruht auf mehreren Säulen: Deutschland stellt Personal und den Missionsleiter für die europäische Polizeimission EUPOL Afghanistan; darüber hinaus unterstützt Deutschland den Polizeiaufbau mit bilateralen Maßnahmen zur Ausstattung und Ausbildung. Feldjäger tragen ergänzend mit gezielten Ausbildungsmaßnahmen zur Polizeiausbildung bei. Bis heute haben deutsche Experten rund 24.000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet.



Ausbildung für die afghanische Armee

Steinmeier informierte sich auch über das deutsche militärische Engagement und die deutsche Unterstützung zum Aufbau der afghanischen Armee. Ziel der Ausbildung durch OMLTs, Ausbildungs- und Verbindungsteams, ist es, die afghanische Armee zu befähigen, selbst Sicherheit im Land zu garantieren.

Auch die Ausbilder der Armee-Rekruten berichteten über weit verbreitete Defizite bei Basiskenntnissen wie Schreiben, Lesen und Rechnen.

Sogenannte OMLTs, helfen im Rahmen des ISAF-Einsatzes beim Training der afghanischen Armee. Deutschland ist derzeit an 4 OMLTs beteiligt. Bundesaußenminister Steinmeier besuchte das deutsche OMLT beim Korpsstab des 209. Korps in Masar-e-Scharif. Das OMLT steht unter deutscher Leitung, es sind aber auch Ausbilder aus Norwegen, Schweden, Kroatien und Finnland beteiligt.



Gegenwärtig ist Deutschland mit rund 3.500 Soldaten drittgrößter Truppensteller nach den USA und Großbritannien. Deutschland ist außerdem Führungsnation des Regionalkommandos Nord in Masar-e-Scharif. Ab Juli diesen Jahres stellt Deutschland zusätzlich die sogenannte Quick Reaction Force.



** Quelle: Website des Auswärtigen Amtes; www.auswaertiges-amt.de


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