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"Der Bericht zeigt auf, dass die Anzahl der bei dem Luftschlag ums Leben gekommenen und verletzten Personen nicht mehr ermittelbar ist"

Afghanistan-Krieg: Pressestatement des Generalinspekteurs zum NATO–Untersuchungsbericht über den Luftangriff von Kundus

Am 29. Oktober 2009 nahm der Generalinspekteur der Bundeswehr General Wolfgang Schneiderhan Stellung zum als geheim eingestuften Bericht einer NATO-Kommission, die den verheerenden Luftangriff vom 4. September untersucht hatte. Einen Bericht darüber sowie einen kritischen Kommentar können Sie hier lesen: Bundeswehr fühlt sich entlastet. Im Folgenden dokumentieren wir die Ausführungen Schneiderhans vor der Presse im Wortlaut (nach dem Manuskript).

Pressestatement des Generalinspekteur zum COMISAF – Untersuchungsbericht

Berlin, 29.10.2009.

Pressestatement des Generalinspekteurs der Bundeswehr General Wolfgang Schneiderhan am 29. Oktober zum COMISAF–Untersuchungsbericht zu dem Luftangriff am 4. September in Afghanstan.

Seit heute Nacht liegt der offizielle ISAF-Untersuchungsbericht zu dem Luftangriff am 4. September vor. Ich möchte Ihnen eine erste Information zu dem Bericht aus meiner Sicht geben. Außerdem möchte ich General Sullivan, dem Leiter der Untersuchungskommission, seinen Mitarbeitern und natürlich dem COMISAF, General McChrystal, für den sehr sorgfältig erarbeiteten und sehr umfassenden Bericht zu danken.

Die Untersuchung, deren Ergebnis uns jetzt vorliegt, wurde von COMISAF angewiesen, um in erster Linie zu prüfen, ob die Vorgänge, die zum Luftangriff führten mit ISAF-internen Regelungen übereinstimmten. Ohne jetzt an dieser Stelle zu sehr ins Detail gehen zu können, stelle ich fest, dass in dem Untersuchungsbericht eine ganze Reihe von Empfehlungen enthalten sind, die darauf abzielen, die hier angewandten Verfahren und Vorschriften zu verbessern. Das schließt auch die Fachausbildung ein. Dazu wird der Bericht durch uns noch gesondert bewertet.

Ungeachtet dessen geht es jedoch für mich nach wie vor unverändert um die Frage: Haben die deutschen beteiligten Soldaten auf die Lage des 4. September in Kunduz, militärisch angemessen reagiert und gehandelt? Ich will versuchen auf diese Frage eine Antwort abzuleiten. Je instabiler sich die Situation vor Ort entwickelt, je mehr gegnerische Kräfte zu militärischen Formen der Kampfführung übergehen, desto weiter wird das Spektrum erforderlicher Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Einsatzgebiet sein.

Daraus folgt zwangsläufig, dass sich militärische Lagen ergeben können, in denen auch der Einsatz tödlich wirkender Waffen unumgänglich ist. Vom humanitären Völkerrecht vorgegebene Verbote sind selbstverständlich zu beachten. Vor diesem Hintergrund und in Kenntnis des jetzt vorliegenden Untersuchungsergebnisses habe ich keinen Grund daran zu zweifeln, dass deutsche Soldaten auf der Grundlage des Mandates der Vereinten Nationen angesichts der schwierigen Lage in operativer Hinsicht militärisch angemessen gehandelt haben.

Um die Vorgänge umfassend beurteilen zu können, darf der Vorfall am 4. September nicht isoliert betrachtet werden. Es ist vielmehr entscheidend und für die Beurteilung ausschlaggebend, die militärische Gesamtlage in Kunduz sowie die dort agierenden feindlichen Kräfte zu betrachten. Seit der Übernahme des Kommandos am 5. April in Kunduz hatte Oberst Klein meine Absicht für die Durchführung des Afghanistaneinsatzes unter den in Kunduz herrschenden fordernden und besonderen Bedingungen gut umgesetzt. Sein Handeln war immer geprägt durch die Maxime, dass der Schutz unserer eigenen und der afghanischen Sicherheitskräfte hohe Priorität hat und dass das Vermeiden von Schädigungen der Bevölkerung Voraussetzung für den Erfolg der Mission ist.

Was meine ich, wenn ich von fordernden und besonderen Bedingungen in Kunduz spreche? Uns allen ist bekannt, dass der Raum um Kunduz herum die Schwerpunktregion für Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte im Norden Afghanistans ist. Die feindlichen Kräfte im Raum um Kunduz werden auf mehrere hundert Mann geschätzt, darunter auch Gelegenheitskämpfer, die gegen Bezahlung bei Angriffen mitwirken. Sie werden dabei durch ausländische Kämpfer (Usbeken, Araber, Tschetschenen) verstärkt. Diese Unterstützung trägt zur Verbesserung der Expertise der feindlichen Kräfte in Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen sowie der Gefechtsführung bei.

Nach Übernahme der Führungsverantwortung in Kunduz durch Oberst Klein wurde zum Beispiel das Plateau, auf dem sich das Feldlager des PRT befindet, bis Ende Juli insgesamt achtmal mit Raketen angegriffen. Von Ende April bis Anfang September gab es in diesem Raum insgesamt 87 sicherheitsrelevante Zwischenfälle. Bei diesen handelte es sich unter anderem um IED-Anschläge sowie zunehmend um Feuergefechte. Dabei fielen im Verantwortungsbereich von Oberst Klein insgesamt 8 ISAF Soldaten (4 DEU), 21 wurden verwundet (20 DEU). Im gleichen Zeitraum fielen 19 afghanische Sicherheitskräfte und 52 wurden verwundet.

Dabei richteten sich diese Angriffe nicht nur gegen ISAF-Soldaten oder afghanische Sicherheitskräfte. Betroffen waren auch Hilfsorganisationen oder Vertreter der afghanischen Staatsgewalt. Auch eine Gefährdung sowie Verluste der afghanischen Bevölkerung wurde durch die feindlichen Kräfte dabei bewusst in Kauf genommen.

Mit Blick auf die Qualität der Anschläge und Hinterhalte konnten wir beobachten, dass Anschlagtechniken, die im Süden und Osten Afghanistans genutzt wurden, auch im Norden im Raum um Kunduz praktiziert wurden. Dieses Jahr wurden bis Ende August in Afghanistan bereits in sechs Fällen Lkw oder Tanklastwagen für Attentate eingesetzt. Zwei weitere Lkw wurden vorher gefunden. Bei diesen Anschlägen, die sich gegen ISAF, aber auch gegen die afghanische Bevölkerung gerichtet haben, kam es durch die große Menge an genutztem Sprengstoff zu hohen Verlusten, auch bei der Zivilbevölkerung. Seit Mitte Juli gab es ernstzunehmende Hinweise darauf, dass ähnliche Anschläge gegen das PRT Kunduz geplant waren. Vermutete Absicht der feindlichen Kräfte würde es nach unseren Informationen sein, einen größeren medienwirksamen Anschlag zu verüben, um die staatlichen afghanischen Organe und ISAF zu diskreditieren und die lokale Bevölkerung von einer Zusammenarbeit mit uns abzuhalten.

Es handelte sich um eine Kombination aus üblicher Vorgehensweise der feindlichen Kräfte, den vorhandenen Warnhinweisen über einen größeren geplanten Anschlag und dem Versuch der feindlichen Kräfte, sich die Mittel für einen solchen Anschlag zu beschaffen. Das führte nach meiner Bewertung zu der richtigen Lagebeurteilung, dass der Luftangriff zum damaligen Zeitpunkt militärisch angemessen war. Der Bericht zeigt auf, dass die Anzahl der bei dem Luftschlag ums Leben gekommenen und verletzten Personen nicht mehr ermittelbar ist. Der Bericht gibt lediglich verschiedene Quellen wieder, bei denen die Anzahl der Toten und Verwundeten zwischen 17 und 142 variiert.

Der NATO-Bericht führt lediglich an, dass lokale Führer vor Ort von möglicherweise 30 – 40 toten und verletzten - wie es im Bericht heißt - „Civilians“ berichteten. Er bestätigt damit nicht, dass durch den Luftschlag unbeteiligte Personen getötet wurden. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es sich in der Nacht zum 4. September für Oberst Klein so darstellte, dass keine Unbeteiligten vor Ort waren.

Ich betone noch einmal, dass es für uns immer hohe Priorität hat, Schädigungen von Unbeteiligten zu vermeiden. Wo es dennoch dazu kommt, prüft die Bundeswehr gemeinsam mit den afghanischen Behörden, wie die betroffenen Familien und Gemeinden unterstützt werden können. Das geschieht auch weil wir solche Folgen immer nachdrücklich und aufrichtig bedauern.

Der Bericht ist von der NATO als Geheim eingestuft. Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass ich keine weitergehenden detaillierten Angaben machen kann. Wir werden aber mit dem Gesamtbericht so transparent und auch mit dem Gesamtvorgang so transparent wie vertretbar umgehen. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden prüft den Vorfall derzeit. Ich darf Sie auch deshalb um Verständnis bitten, dass ich zu weiteren Details oder gar rechtlichen Bewertungen zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen kann.

Quelle: Website des Bundesverteidigungsministeriums, 29. Oktober 2009; www.bmvg.de


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