Die letzte Grenze: Die paschtunischen Stammesgebiete zwischen Taliban und NATO
Von Conrad Schetter *
Nahezu zeitgleich wurden Anfang September 2006 zwei Kleinstädte – hunderte von
Kilometern voneinander entfernt – Zeuge ähnlich lautender Abkommen. Sowohl in
Qala Musa in der südafghanischen Provinz Helmand wie in Maidan Shah in der
pakistanischen Tribal Area North Waziristan trafen lokale Eliten und Taliban mit
britischem bzw. pakistanischem Militär ein Einverständnis darüber, daß das Militär
abzuziehen habe und die lokalen Stämme wieder das Sagen übernehmen. Diese
Abkommen wurden nicht von ungefähr im Vorfeld der Gespräche, die George Bush mit
Pervez Musharraf und Hamid Karzai am 27. September in Washington führte,
getroffen. Nach fünfjährigen, von den internationalen Koalitionstruppen immer
intensiver geführten Kämpfen gegen die Taliban, scheinen letztere nun dem Sieg
näher zu sein als erstere.
Es stellt sich die Frage, was hinter dem rezenten Erfolg der Taliban steht. Die hier
vorgetragene These ist, daß wir im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan
gegenwärtig nicht allein den Krieg zwischen internationalen Koalitionstruppen und
militanten Islamisten erleben. Es ist vielmehr ein Krieg – vielleicht einer der
entscheidenden der letzten Jahrzehnte – zwischen Moderne und Tradition, zwischen
staatlicher Ordnung und lokalen Autonomien.
So überlappen sich in dem gegenwärtigen Krisengebiet verschiedene Konfliktlinien, die
erst das Erstarken der Taliban gegen die Präsenz internationalen Militärs sowie gegen
staatliche Einflußnahme – afghanische wie pakistanische – erklären.
Das paschtunische Stammesgebiet
Kaum eine andere Region der Welt wäre als Schauplatz für die Austragung des großen
Kampfes zwischen Moderne und Tradition besser geeignet als das paschtunische
Stammesgebiet im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. In geographischer,
gesellschaftlicher, politischer wie rechtlicher Hinsicht bildet diese Region das
Gegenstück zur modernen, staatlich geordneten Welt – das letzte terrain of resistance
einer anderen Welt.
Die paschtunischen Stammesgebiete befinden sich im Epizentrum eines komplexen
Konfliktgürtels. So liegen die Stammesgebiete zwischen drei seit Jahrzehnten
virulenten Konfliktregionen: Afghanistan, Belutschistan und Kaschmir. In allen drei
Konflikten spielen die Paschtunen, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, eine
wichtige Rolle. Eine zusätzliche Brisanz liegt darin, daß diesem Gebiet in den
Sicherheitskonzeptionen der (potentiellen) Atommächte Pakistan, USA, Iran, China,
Indien und Russland sowie der potentiellen Atommacht Iran eine maßgebliche
geopolitische Funktion beigemessen wird.
Entscheidend ist, daß sich in diesen Stammesgebieten bislang keine staatliche
Ordnung durchsetzen konnte. Häufig wird die abweisende Geographie als Grund
hierfür genannt. In der Tat fallen entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze die
Gebirgszüge des Hindukusch von 5000m herab und fächern sich in ein schwer
zugängliches Labyrinth aus Gebirgskämmen auf, die im Südwesten in die Dasht-i
Margho- und Registan-Wüsten übergehen. Zwar vermag der abweisende Charakter
dieser Bergwelt den Aufbau einer staatlichen Infrastruktur, v. a. den Aufbau eines
funktionierenden Grenzregimes, erschweren, ist jedoch nicht Argument genug, um die
Autonomie der Region zu erklären.
Hier dürfte die Bedeutung der paschtunischen Stammesgesellschaft weit wichtiger
sein. Obgleich die Paschtunen sich in Afghanistan stets als das staatstragende Volk
verstanden und die afghanische Nationalideologie aus der Sicht der Paschtunen
geschrieben ist, widersetzten sich die Paschtunen – immerhin ein Volk von weit über
35 Millionen Menschen – beidseits der Grenze vehement einer staatlichen
Einflußnahme. Dies bedingte, daß die Paschtunen in Südostafghanistan von
staatlichen Pflichten wie Steuern, Wehrdienst etc. befreit blieben und der Staat hier
kaum Fuß fassen konnte. In Pakistan erhielten die Stammesgebiete, die sog. Federal
Administered Tribal Areas (FATA), einen eigenen politischen Status. Sie werden von
einem political agent verwaltet, und es gelten in der FATA die bereits von den Briten
eingeführten Frontier Rights Regulations; diese kombinieren gewisse paschtunische
Rechtsvorstellungen mit dem Versuch einer externen Kontrolle. Auf der einen Seite
garantierte dies der Stammesbevölkerung Autonomie, auf der anderen Seite blockiert
dies jede sozioökonomische Entwicklung. So halten gerade Menschrechtsgruppen die
FATA für einen Anachronismus. Der Ehren- und Rechtscodex der Paschtunen, das
Paschtunwali, spiegelt eine archaische Gesellschaftsordnung wider, die von einer
klaren Einteilung der Welt in Gut und Böse ausgeht, drakonische Maßnahmen für
Fehlverhalten vorsieht und in Frauen nicht mehr als zu besitzende Objekte sieht.
Interessant ist, daß die Paschtunen trotz der Sonderrechte, die sie für sich erkämpften,
in beiden Ländern über einen enormen politischen Einfluß verfügen. Nicht von
ungefähr sind Hamid Karzai und die meisten Schlüsselminister in Afghanistan
Paschtunen und sitzen Paschtunen in den Schaltzentren des pakistanischen Militärs,
insbesondere des Geheimdienstes ISI (Inter Service Intelligence).
Schließlich ist die ungeklärte Grenzziehung zwischen Afghanistan und Pakistan zu
nennen. So erkennt Afghanistan die Durand-Linie, die die Briten 1893 festlegten und
die der afghanische Emir Abdur Rahman damals akzeptieren mußte, bis heute nicht
als rechtmäßige Staatsgrenze zu Pakistan an. Der unverhohlene Irridentismus der
Kabuler Regierung sowie stetige Versuche, paschtunische Stämme jenseits der
Durand-Linie gegen den pakistanischen Staat aufzuwiegeln, brachten Afghanistan und
Pakistan zwischen den 1950er und 1970er Jahren mehrfach an den Rand eines
Krieges. Die Verweigerung Afghanistans, die Durand-Linie als völkerrechtliche Grenze
anzuerkennen, wie auch die Tatsache, daß auf pakistanischer Seite die Tribal Areas
an die Durand-Linie angrenzen, führten dazu, daß diese Grenze bis heute durchlässig
ist und kaum einer staatlichen Kontrolle unterliegt. Vor diesem Hintergrund ist der
Vorschlag Pakistans, zur Bekämpfung der Taliban diese Grenze durch einen
Grenzzaun abzusichern, nur ein Scheinangebot, da dies de facto eine Anerkennung
der Grenze von Seiten Afghanistans bedeuten würde. Daß dies kein afghanischer
Präsident jemals tun würde, ist der pakistanischen Regierung nur zu bewußt.
Der Afghanistankrieg
Die einzigartige Sonderstellung, die dieses Grenzgebiet als staatenloser Raum
einnimmt, wurde in den letzten Jahrzehnten durch den Afghanistankrieg gesteigert. So
avancierte dieses Gebiet auf afghanischer Seite in den 1980er Jahren zur
wesentlichen Kampfzone zwischen den sowjetischen Besatzungstruppen und den
afghanischen Mujahedin, die aus dem pakistanischen Grenzgebiet heraus operierten.
Diese Kämpfe bedingten, daß ganze Provinzen entvölkert wurden und allein in den
pakistanischen Grenzgebieten über 3,5 Mio. Menschen – überwiegend Paschtunen –
Zuflucht suchten. Des Weiteren lockte der Jihad gegen die Sowjets Tausende
arabischer Freischärler in dieses Grenzgebiet. Nicht nur ergaben sich hieraus familiäre
Bindungen, sondern es entstand eine Mischung aus radikalem Islam und tribalen
Vorstellungen, was ich als ‚Islam paschtunischer Prägung’ bezeichnen würde. So
entstanden im aufgeheizten Klima des Afghanistankriegs Wertvorstellungen, die die
Radikalität und Kompromißlosigkeit des Pashtunwali mit denen eines militanten Islam
verband und sich vor allem gegen die Einführung moderner Gesellschaftsbilder (z.B.
Gleichberechtigung von Frauen, westliche Demokratie, Trennung von Religion und
Staat) ausrichtete. Erstmals lebte dieser ‚Islam paschtunischer Prägung’ Mitte der
1990er Jahre in der Bewegung der Taliban auf und wurde von großen Teilen der
paschtunischen Bevölkerung gerade aufgrund seiner einfachen und radikalen
Erklärung der Welt akzeptiert. Dieses tribal-islamistische Amalgam ist umso
interessanter, da islamistische Strömungen, wie sie auch Usama bin Laden oder
Gulbuddin Hekmatyar vertreten, tribale Identitäten und Gesellschaftsformen als
unislamische Anachronismen, die sich gegen die Reinheit der Umma richten, strikt
ablehnen. Daher ist es ein gewisses Paradoxon, daß seit dem 11. September die
paschtunischen Stämme das Rückgrad des militanten Islamismus bilden.
Um die gegenwärtige Situation zu verstehen, muß zudem der ökonomische Wandel,
den die Stammesgebiete durchliefen, beachtet werden. Der Afghanistankrieg bedingte
einen Anschluß der FATA an die globalen Märkte. Die afghanischen Flüchtlingsströme
lösten seit den 1980er Jahren eine enorme Arbeitsmigration aus den
Stammesgebieten in die großen Städte Pakistans (v. a. Karatschi), aber auch in den
Mittleren Osten aus. So sind heutzutage mehrere hunderttausend Familien in den
Stammesgebieten von Überweisungen aus dem Mittleren Osten abhängig und es
findet über diese Arbeitermigration ein Ideen- und Wissenstransfer zwischen der
arabischen Welt und den paschtunischen Stammesgebieten statt. Zudem wird die
Grenzregion durch Schmuggel und Schlafmohnanbau – also von der Staatenwelt als
illegal betrachtete Wirtschaftweisen – beherrscht. Das Gebiet entlang des Helmand in
Südafghanistan und die ostafghanische Provinz Nangrahar stellen zwei der wichtigsten
Opiumanbaugebiete der Welt dar. Obendrein profitierte die Region von Schmuggel
(Autos, Elektrogüter etc.) aus den Golfstaaten über Iran und Afghanistan nach
Pakistan. Eine Grenzstadt wie Khost, die sich im Zentrum des Antiterrorkriegs befindet,
entwickelte sich trotz alltäglicher Gewalt zu einer Boomtown, in der Geld aus dem
Drogenhandel, Schmuggel und der Arbeitsmigration in den Bau von Basaren,
Einkaufszentren und Palästen fließt. Der Bodenpreis ist hier nicht viel niedriger als in
Kabul. So bedingt gerade das Fehlen eines funktionierenden Grenzregimes die
Ausbildung wirtschaftlicher Überlebensstrategien in einer überbevölkerten, aber
wirtschaftlich unterentwickelten Region.
Die Entwicklung seit dem 11. September
Die Ereignisse seit dem 11. September brachten diese letzte Bastion einer
staatsfernen Gesellschaft unter enormen Druck. Auf der einen Seite nutzte Pakistan
den Krieg gegen den Terror, um einen erneuten Versuch zu starten, die staatliche
Kontrolle auf die Stammesgebiete zu verstärken. Auf der anderen Seite waren die USgeführten
Truppen bemüht, sämtliche radikalen, al-Qaida nahe stehenden Akteure in
dem Grenzgebiet zu eliminieren und darüber hinaus noch den Drogenanbau zu
bekämpfen und einen Wiederaufbau entsprechend westlicher Werte in Gang zu
setzen.
Jedoch wird dieser Kampf dadurch erschwert, daß der ‚Islam paschtunischer Prägung’,
der mit den Taliban in Verbindung gebracht wird, eine positive Resonanz in Teilen der
Bevölkerung findet, während die modernen Werte, die die internationale Gemeinschaft
von Kabul aus predigt, als fremd und bedrohlich empfunden werden. So ist der Begriff
‚Taliban’ in dem paschtunischen Stammesgürtel gegenwärtig weit weniger Ausdruck
für eine politische Bewegung als für eine Lebenseinstellung, die von Farah in
Westafghanistan bis hin nach Kunar und Bajur in den nordöstlichen, paschtunischen
Stammesgebieten gelebt wird. Epizentrum dieses Islam paschtunischer Prägung sind
Orte wie Miram Shah und Mirali in North Waziristan, wo sich eine Fülle an Medresen
befindet, in der die Taliban ihre religiöse und militärische Ausbildung erhalten. In der
FATA soll es weit über 300 Medresen geben.
Der Begriff Taliban stellt daher gegenwärtig eine Sammelbezeichnung für diejenigen
dar, die mit der Einmischung von außen – ob durch militärische Präsenz, durch die
Vernichtung von Schlafmohnfeldern oder durch die Einrichtung von Mädchenschulen –
nicht einverstanden sind. Entsprechend dieser Zersplitterung in eine unübersichtliche
und vielschichtige Anzahl an Gruppierungen agieren die Taliban – übrigens ähnlich wie
bereits die paschtunischen Widerstände gegen die Moguln im 18. Jahrhundert, die
Briten im 19. Jahrhundert und die Sowjets in den 1980er Jahren – in kleinen,
unabhängigen Gruppen, unter denen sich religiöse Eiferer genauso wie
Stammeskrieger, Drogenhändler und Söldner befinden. Kommandeure wie Jalaluddin
Haqqani, Mullah Akhtar Masoor oder Mullah Dadullah gehören noch zu den wichtigsten
Kommandeuren, die auf überlokaler Ebene eine Rolle spielen. Die Stärke der Taliban
wird mit ca. 10.000 Mann berechnet, wenngleich hier Zahlen kaum aussagekräftig sind,
da bereits der Besitz eines Gewehres aus einem Bauern einen Kämpfer machen kann.
Die militärische Präsenz in den Stammesgebieten ist enorm. Bereits unter Enduring
Freedom-Kommando wurde die Zahl der internationalen Truppen auf ca. 25.000-
30.000 Mann in Süd- und Südostafghanistan aufgestockt. Zudem kommen afghanische
Soldaten, die ebenfalls mehrere Zehntausend umfassen dürften. Auf pakistanischer
Seite waren in der FATA bis zu 80.000 Mann im Einsatz. Die Zahl der Kriegstoten ist
ernüchternd. In Süd- und Südostafghanistan kamen allein in den ersten zehn Monaten
dieses Jahres über 1.500 Menschen durch Kriegshandlungen ums Leben. In den
letzten fünf Jahren starben 350 US-Soldaten und 150 alliierte Soldaten in Afghanistan
und 450 pakistanische Soldaten bei Kämpfen in den Autonomiegebieten. Aufgrund der
anhaltenden Kämpfe sollen in Südafghanistan bereits wieder mehr als 100.000
Menschen auf der Flucht sein.
Da es für die internationalen Truppen äußerst schwierig ist, Taliban zu identifizieren,
kamen die militärischen Operationen von Beginn an nur mühsam voran. Die
Bombardierung von Tora Bora sowie die unzähligen militärischen Unterfangen wie
Operation Anaconda, Operation Avalanche oder Operation Mountain Thrust waren
wenig erfolgreich. Die Denunzierung interner Gegner als „Taliban“ bei den
Koalitionstruppen durch afghanische Informanten führte zudem dazu, daß die
internationalen Truppen in Bruderkriege hineingezogen wurden und ein ums andere
Mal anstelle von Taliban Zivilisten oder Unbeteiligte töteten. Schließlich bezogen die
militärischen Operationen der Coalition forces kulturelle Besonderheiten zu wenig in
ihre Operationsführung ein. Gleichzeitig lockten Insurgenten die ausländischen
Truppen bewußt in „kulturelle Fallen“, etwa durch tragen der Burka bei Anschlägen,
Verbergen in Moscheen etc., um die Entfremdung zwischen der Bevölkerung und den
Koalitionstruppen zu erhöhen. Die Durchsuchung von Frauengemächern oder die
Bombardierung heiliger Orte stellten Sakrilege dar. Die Taliban dagegen beschränkten
sich zunächst auf weiche Ziele wie Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, um den
Wiederaufbau der Region zum Stillstand zu bringen. Des Weiteren richten sich ihre
Attentate gegen internationale und afghanische Sicherheitskräfte sowie gegen
Afghanen, die mit der Regierung kollaborieren. Allein in diesem Jahr wurden über 80
Selbstmordattentate verübt. Da die Taliban zudem als ‚David’ und die Coalition forces
als ‚Goliath’ betrachtet werden, liegen die Sympathien der Bevölkerung oftmals bei den
Taliban: Wenn daher bei einem Attentat der Taliban unschuldige Zivilisten ums Leben
kommen, ist die Entrüstung weitaus geringer, als wenn bei einem Angriff der Coaliton
Forces Zivilisten sterben.
Pakistans doppeltes Spiel
Das Rückgrad der Taliban liegt zweifelsohne in Pakistan. Jüngst gab sogar Präsident
Musharraf zu, daß der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die Taliban logistisch
unterstützt und ehemalige ISI-Mitarbeiter in der Führung der Taliban vermutet werden
können. Wenngleich also auf der einen Seite Pakistan bemüht ist, die Autonomie der
paschtunischen Stämme zu brechen und immer wieder Mitglieder von al-Qaida (nicht
der Taliban) zumindest als good will-Aktionen gefangen nimmt und an die USA
ausliefert, unterstützen Teile des pakistanischen Geheimdienstes und Militärs die
Taliban. Hierfür gibt es zwei Gründe. Der eine ist, daß nach dem 11. September die
militanten Islamisten in Pakistan selbst zu einem Problem wurden. Pakistan schuf sich
ein Ventil im Umgang mit den militanten Islamisten, indem es ihnen den Weg auf das
‚Schlachtfeld Afghanistan’ offen hielt. Der andere Grund ist in der Demütigung
Pakistans zu sehen. So verlor Pakistan mit dem Sturz der Taliban jeglichen Einfluß auf
die afghanische Regierung. Auch näherten sich die USA und der Erzfeind Indien –
gerade in der Frage des atomaren Technologietransfers – an, und unterhält die Karzai-
Regierung gute Beziehungen zu Indien. So offerierte Indien Afghanistan Entwicklungsund
Militärhilfe über 650 Mio. US-$ und eröffnete Konsulate in Kandahar und Jalalabad
– also in direkter Nachbarschaft zur pakistanischen Grenze. Pakistanische Politiker
klagen daher Indien an, von Afghanistan aus Pakistan destabilisieren und den
wiederaufkeimenden Widerstand in Belutschistan fördern zu wollen. Dieser Vorwurf
geht einher mit einem wachsenden militanten Widerstand in Belutschistan, einer
ressourcenreichen aber bevölkerungsarmen Region.
Wie offen sich die Taliban in Pakistan bewegen können, wird daraus ersichtlich, daß
diese ihr Hauptquartier nicht irgendwo in den Bergen, sondern mitten in Quetta haben.
Auch soll das pakistanische Militär die Taliban logistisch (z.B. Transport) unterstützen.
Ebenfalls wird das Gros der Kämpfer und Selbstmordattentäter unter afghanischen
Flüchtlingen in Pakistan rekrutiert und in der FATA ausgebildet. Woher die Taliban die
finanziellen Mittel für ihren Kampf nehmen, ist dennoch unklar. Immer wieder wird
betont, daß die Taliban sich über den Drogenhandel finanzieren. Wenngleich dies wohl
stimmen mag, so ist Vorsicht geboten, eine negative Kausalkette von Krieg-Taliban-
Drogen aufzubauen. Denn auch afghanische Regierungsvertreter vom Minister bis hin
zum einfachen Polizisten sind in den Drogenhandel verstrickt. Weitere Einkünfte der
Taliban dürften von reichen Mäzenen aus dem Nahen und Mittleren Osten stammen.
Eine finanzielle Unterstützung durch Pakistan ist zwar anzunehmen, ist aber kaum
nachzuweisen. Die Taliban scheinen auf jeden Fall finanziell gut ausgerüstet zu sein.
So erhalten Kämpfer der Taliban einen Sold, der um das vierfache denjenigen eines
afghanischen Soldaten übersteigt; daher heuert auch manch ein Kämpfer aus reinen
finanziellen Anreizen bei den Taliban an.
Das letzte Aufgebot der NATO
Am 31. Juli und 5. Oktober übernahm die NATO – ausgestattet mit ISAF-Mandat – den
Oberbefehl über die Truppen in Süd- und Südostafghanistan von dem US-geführten
Enduring Freedom-Einsatz. Nachdem in den vergangenen Jahren eine militärische
Intensivierung allein ein Erstarken der Taliban bedingte, war der NATO bewußt, daß ihr
ein Debakel droht, wenn sie nur auf die militärische Karte setzt. So sind sich
Diplomaten wie Generäle einig darin, daß der Krieg gegen die Taliban nicht allein
militärisch gewonnen werden kann. Vergleiche mit dem Vietnam der Amerikaner in den
1960er Jahren oder dem Afghanistan der Sowjets in den 1980er Jahren sind schnell
zur Hand. Gleichzeitig steht die Existenz der NATO auf dem Spiel. So machen die
Bündnispartner keinen Hehl daraus, daß es sich in Afghanistan entscheidet, ob die
NATO eine Zukunft haben wird oder nicht.
Dementsprechend versucht die NATO, unter Einbeziehung diplomatischer und
entwicklungsbezogener Mittel in den Stammesgebieten Fuß zu fassen. Auf
militärischer Ebene zeigte die NATO mit der Operation Medusa im August diesen
Jahres gleich ihre Entschlossenheit, die Taliban zu besiegen. Es waren die schwersten
Kämpfe, die in Südafghanistan seit Jahren tobten; beide Seiten hatten enorme Verluste
zu verzeichnen. Sowohl die NATO als auch die pakistanische Armee verlegen sich
zudem darauf, gezielt vermutete Treffpunkte und Unterschlüpfe der Taliban zu
bombardieren, wie etwa am 30. Oktober in Bajaur. So wird wohl in den nächsten
Monaten die Zahl der Nachrichten über die Tötung von 50, 60 oder 100 Taliban durch
Luftschläge zunehmen – wer dann auch immer mit Taliban gemeint ist.
Die Verhandlungen von Qala Musa und Miram Shah im September zeigen zudem, daß
sowohl die NATO als auch die Pakistanis verstärkt den Dialog mit der lokalen
Bevölkerung suchen. Die Erfolge dieser Verhandlungen sind umstritten. So nahmen
nach dem Abkommen von Miram Shah die Angriffe aus North Waziristan auf USSoldaten
in der afghanische Nachbarprovinz Khost zu, obgleich der Vertrag solche
Aktionen untersagt. Auch die Idee, daß Hamid Karzai und Pervez Musharraf Jirgas in
den Stammesgebieten abhalten sollen, mag zwar öffentlichkeitswirksam sein, dürfte
aber kaum zu einem nachhaltigen Frieden führen. Im Abkommen von Qala Musa ist
zudem der Aufbau von Stammesmilizen, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollen, ein
wichtiger Baustein.
Interessant ist, daß dieses kombinierte Vorgehen der NATO nicht wirklich neu ist,
sondern einer exakten Kopie der Sowjetstrategie aus den 1980er Jahren entspricht.
Auch damals wurden gezielt Stützpunkte der Mujahedin bombardiert, Einigungen mit
lokalen Eliten getroffen und autonome Stammesmilizen ausgehoben. Diese Strategie
kam damals verstärkt zum Einsatz, als die Sowjets begannen an einen Rückzug aus
Afghanistan zu denken. So häufen sich die Anzeichen, daß nun auch die NATO und
Pakistan bereits ihren geordneten Rückzug aus den Stammesgebieten planen und die
paschtunischen Stämme einmal mehr eine externe Einflußnahme in die Schranken
gewiesen haben. Zweifelsohne ein Sieg für die militanten Islamisten.
* Conrad Schetter, Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) Universität Bonn.
Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 48/Winter 2006, 12. Jahrg., Seiten 10-13
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