Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Moskau streicht Sakrileg

NATO-Soldaten aus Afghanistan dürfen nun auch russisches Gebiet passieren

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Ausgerechnet in Lenins Geburtsstadt Uljanowsk an der Wolga soll eine Art Umschlagplatz für die Rückführung von NATO-Soldaten aus Afghanistan entstehen.

So jedenfalls sieht es der Entwurf eines neuen Abkommens zwischen Russland und der NATO vor. Ein Empfehlungsschreiben von Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow liegt dem Verteidigungsausschuss des Parlaments bereits vor. Über Details des Projektes informierte die Abgeordneten jetzt auch Außenminister Sergei Lawrow.

Russland hatte sein Staatsgebiet gleich zu Beginn der westlichen Anti-Terror-Operation in Afghanistan im Herbst 2001 für den Transport nichtmilitärischer Güter geöffnet. Diese ist, anders als die Mission in Irak und die Bombenangriffe auf Libyen durch UN-Mandat gedeckt und damit aus russischer Sicht völkerrechtlich legitim. Dazu kommt, dass die NATO-Mission grenzüberschreitenden Aktivitäten von Drogen-Kartellen und militanten Islamisten gewisse Grenzen setzt. Seit 2010 darf daher auch NATO-Kriegstechnik passieren. Undenkbar war bisher jedoch, dass Truppen des einstigen Gegners im Kalten Krieg ihre Stiefel auf russischen Boden setzen.

Zwar bedarf der Vertrag noch der Bestätigung durch die Regierung, doch die gilt als sicher. Russland, so Außenamtschef Lawrow, sei interessiert. Aus gutem Grund: Moskau kann aus dem Abkommen politisches wie wirtschaftliches Kapital schlagen.

2014 wollen die USA und deren Verbündete mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan beginnen. Die Süd-Route über Pakistan gilt bereits seit Längerem als zu unsicher. Usbekistan aber verweigert der Allianz die Rückführung von Kriegstechnik wie Truppen über seine Luftwaffenbasen. Da auch der iranische und der turkmenische Luftraum tabu sind, müsste die NATO weit nach Norden ausweichen. Nach Kasachstan. Dadurch aber würde sich der Weg vom Hindukusch zur nächsten NATO-Basis in der Osttürkei auf fast 5000 Kilometer erhöhen. Eine Entfernung, die für die schwerfälligen, spritfressenden Transporter ohne Zwischenlandung nicht zu bewältigen ist.

Moskau wie Washington wissen um diese Zwänge. Daher, so der Militärexperte Alexander Goltz, würde, wer immer bei den US-Präsidentenwahlen im November siegt, sich genötigt sehen, auf russische Interessen Rücksicht zu nehmen. Kritik an Moskaus Menschenrechts- und Demokratiedefiziten werde sich daher sehr in Grenzen halten, sogar ein Kompromiss bei der Stationierung von US-Raketenabwehr in Europa sei möglich.

Die NATO muss zudem für den Transport eines einzigen Containers über russisches Gebiet rund 20 000 US-Dollar berappen.

* Aus: neues deutschland, 16. März 2012


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage