Russland sieht Gefahr
Moskau fragt nach der Strategie der NATO in Afghanistan
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Der auf Anforderung der Bundeswehr erfolgte NATO-Bombenangriff bei
Kundus hat in Russland
eine seit Wochen sehr kontrovers geführte Diskussion neu befeuert. Es
geht um Modalitäten für eine
mögliche Kooperation Moskaus mit der NATO bei der grenzüberschreitenden
Extremismusbekämpfung in ganz Zentralasien.
In den ehemals sowjetischen Republiken Zentralasiens weiß man ebenso wie
in Russland, dass die
Entwicklungen in Afghanistan früher oder später auch Folgen für die
Nachbarn zeitigen. Gefahr
droht vor allem von islamischen Extremisten in der Region, deren
Gruppierungen seit dem
afghanischen Bürgerkrieg eng mit den Taliban und deren Verbündeten
vernetzt sind. Um deren
Comeback, Drogen- und Waffenschmuggel zu bekämpfen, hat Dmitri Medwedjew
seinem USamerikanischen
Kollegen Ba-rack Obama engere Zusammenarbeit mit der NATO bei deren
Afghanistan-Operation zugesagt.
Eine tragende Rolle könnte dabei Einheiten zufallen, die aus Tadshiken
und Usbeken bestehen. Sie
hätten, so die Idee, im Norden Afghanistans, wo beide Volksgruppen über
deutliche Mehrheiten
verfügen, größeren Rückhalt bei der Bevölkerung als die NATO-Soldaten.
Über Einzelheiten wollte
Außenminister Sergej Lawrow mit NATO-Generalsekretär Anders Fogh
Rasmussen in New York bei
der UN-Vollversammlung reden.
Nach dem Drama bei Kundus könnten solche Pläne jedoch erst einmal auf
Eis gelegt werden.
Russland, sagte dessen NATO-Botschafter Dmitri Rogosin, müsse zuvor alle
Details der NATO-Strategie
für Afghanistan kennen und an deren Planung beteiligt werden, um
Zwischenfälle wie den
bei Kundus zu vermeiden. Daraus spricht die durchaus berechtigte Angst,
Russland und dessen
Verbündete kämen bei den Afghanen in ähnlichen Verruf wie die westliche
»Anti-Terror-Koalition«.
Denn 30 Prozent aller Kriegstoten am Hindukusch sind Zivilisten, wie
russische Experten
hervorheben, die nicht erkennen können, dass Obamas neue
Afghanistan-Strategie erste Früchte
trägt, wie dessen Verteidigungsminister unmittelbar vor Kundus
behauptete. Mehr noch:
Hochrangige russische Afghanistan-Veteranen werfen dem Westen eklatante
politische Fehler vor.
Dass sich die Spannungen vor allem im lange Zeit ruhigen Norden
Afghanistans vergrößern, hat
ihrer Meinung nach vor allem zwei Gründe: Geheimdienstliche
Informationen sind schlecht oder
fehlen ganz. Denn die Bundeswehr übt in ihrem Verantwortungsbereich
weder polizeiliche noch
militärische Funktionen aus und beschränkt sich auf bloße Präsenz. Vor
allem aber rächt sich jetzt
die Entmachtung der Nordallianz. Die von Tadshiken und Usbeken
dominierte Gruppierung war die
einzige, die den Taliban - mit Waffen und Geld aus Russland und Iran -
militärischen Widerstand
leistete. Lange bevor der Westen nach dem 11. September 2001 das Drama
am Hindukusch
überhaupt zur Kenntnis nahm. Von Präsident Hamid Karsai und dessen Paten
in Washington
inzwischen aus der Regierung gedrängt und bei den angeblich
demokratischen Wahlen am 20.
August womöglich übertölpelt, verfolgt die Nordallianz jetzt voller
Schadenfreude, wie die Taliban
erneut an Boden gewinnen. Und rührt daher auch keinen Finger, um zu
verhindern, dass Islamisten
aus den Gebieten an der afghanisch-pakistanischen Grenze nach
Zentralasien einsickern.
Die zentralasiatischen Staatschefs fürchten, die Taliban könnten -
sobald sie wie Ende der 90er
Jahre wieder an Afghanistans Nordgrenzen stehen - gemeinsam mit
islamischen Gruppierungen in
Usbekistan und Tadshikistan die gesamte Region destabilisieren. Auch
Moskau ist an der
unkontrollierten Ausbreitung der Extremisten nicht interessiert. Denn
dadurch könnten nicht nur die
gegenwärtigen Machthaber in Zentralasien, sondern sämtliche
Machstrukturen in der Region
hinweggefegt werden.
Für Hardliner wie NATO-Botschafter Rogosin wäre das jedoch offenbar das
geringere Übel. Schon
im Mai warnte er vor engerer Kooperation mit der NATO in Afghanistan.
Die Allianz bekäme dadurch
definitiv den Fuß in die Tür des einstigen russischen Hinterhofs, Moskau
selbst aber hätte davon
nichts. Russland könnte dann nicht einmal mehr gegen die weitere
Ostausdehnung der NATO
protestieren.
* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2009
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