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Perspektiven der Taliban für einen Versöhnungsprozess in Afghanistan

Hohe Repräsentanten der Taliban im Interview. Aus einem Projekt des Londoner Royal United Services Institute for Defence & Security Studies (RUSI)

Von Michael Semple, Theo Farrell, Anatol Lieven und Rudra Chaudhuri *

Die Verfasser führten im Juli 2012 Interviews mit vier hochrangigen Taliban -Sprechern über Überlegungen der Taliban zur Versöhnung. Dabei verfolgten sie als Hauptziel, deren Vorstellungen zu drei zentralen Bereichen in Erfahrung zu bringen:
  1. Der internationale Terrorismus und die Verbindungen der Taliban mit Al-Kaida und anderen bewaffneten nicht-staatlichen Akteuren
  2. Die Möglichkeiten für eine Feuerpause
  3. Parameter für eine Konfliktlösung und die weitere Anwesenheit US-amerikanischer Militärstützpunkte
Die Interviewten bezogen sich dabei hauptsächlich auf die sogenannten Quetta Shura Taliban, unter der Führung von Mullah Mohammad Omar, der Hauptkraft des Aufstands, die weiterhin über die Loyalität der wichtigsten anderen Gruppen von Aufständischen verfügt.

Uneingeschränkter Konsens bei allen Interviewten war, dass jegliches dauerhafte Abkommen letztlich von ihm gebilligt werden müsse. Bei den Gesprächen gewannen die Verfasser den Eindruck, dass ihre Gesprächspartner eher dem gemäßigten Flügel der Taliban-Führung angehörten, deren Ansichten wohl nicht vollständig von den radikaleren Taliban in der Militärkommission geteilt würden.

Die Interviews wurden unter der Vereinbarung der Wahrung der Anonymität der Gesprächspartner geführt, wobei die Verfasser den persönlichen Hintergrund ihrer Interviewpartner sorgfältig recherchiert hatten. Bei einem der Interviewten handelte es sich um einen früheren Minister der Taliban und engen Vertrauten von Mullah Mohammad Omar. Bei einem weiteren um ein Gründungsmitglied der Taliban und ehemaligen stellvertretenden Minister, der in seinen Äußerungen bestrebt war, den Autoren die allgemeinen und genuinen Ansichten der Bewegung zu vermitteln. Bei einem dritten handelte es sich um einen ehemaligen Mudschahedin-Kommandeur, der zwar kein offizielles Mitglied der Taliban war, aber mit ihnen gekämpft hatte und mehrfach als Verhandlungsführer für sie tätig gewesen war. Beim vierten, ebenfalls kein offizielles Mitglied der Taliban, handelte es sich um einen afghanischen Unterhändler mit vielfältigen Erfahrungen bei Verhandlungen mit ihnen.

Die Autoren fassen ihre wesentlichen Ergebnisse der Interviews wie folgt zusammen:

Internationaler Terrorismus
  • Die Führung der Taliban, wie auch die Basis, bedauern zutiefst ihre Verbindungen mit Al-Kaida in der Vergangenheit. Sobald eine allgemeine Waffenruhe und / oder eine politische Vereinbarung beschlossen sei, würde die Basis einem Aufruf von Mullah Mohammad Omar – aber nur von ihm – zur vollständigen Trennung von Al-Kaida befolgen.
  • Diese Trennung müsste in ein erweitertes Abkommen eingebettet werden, das den Taliban ermöglicht, die Loslösung von Al-Kaida selbst schrittweise durchzuführen, im Austausch gegen eine Form politischer Anerkennung.
  • Nach der Trennung würden die Taliban gewährleisten, dass Al-Kaida auf afghanischen Boden nicht weiter operieren könnte.
  • Die Taliban wären offen für die Einsetzung einer Kommission, bestehend aus Taliban-Vertretern, ISAF und der afghanischen Regierung, zur Überwachung weiterer Al-Kaida Aktivitäten.
  • Eine Fortsetzung von Drohnen-Angriffen sowohl innerhalb Afghanistans wie jenseits der Grenze in Pakistan, würden die Aufgaben der Führung bei der Bewahrung der Unterstützung ihrer Basis und die Kontrolle der empörten Massen enorm verkomplizieren.
Feuerpause
  • Die Taliban wären offen für Verhandlungen über eine Feuerpause als Teil eines umfassenden Abkommens wie auch als Einstieg für vertrauensbildende Maßnahmen und dem zentralen Problem der Aufteilung der politischen Macht in Afghanistan.
  • Eine Feuerpause bedürfte einer starken islamischen Begründung zur Vermeidung des Anscheins einer Kapitulation.
  • Eine von Mullah Mohammad Omar unterstützte Feuerpause besäße das größte Erfolgspotenzial.
  • Eine allgemeine Feuerpause ( da einem umfangreicheren Plan zur Aussöhnung am nächsten kommend ) wird von den Taliban ( unter Eibindung der örtlichen Kommandeure und Kader ) der Vorzug vor örtlich bzw. regional vereinbarten Feuerpausen gegeben. Eine von Mullah Mohammad Omar gebilligte allgemeine Feuerpause gäbe den Taliban auch bessere Möglichkeiten bei der Behandlung von Störern des Friedensprozesses und Abweichlern.
Parameter für eine Konfliktlösung und die US-Militärstützpunkte
  • Die Taliban werden keinesfalls mit Präsident Karsei und seiner Regierung, die als korrupt und schwach gilt, in Verhandlungen treten.
  • Die Forderung nach vollständiger Übernahme der derzeitigen afghanischen Verfassung würde die Verhandlungen wohl von vornherein zum Scheitern verurteilen. In ihren substanziellen Teilen ist sie dagegen weniger umstritten und möglicher Verhandlungsgegenstand. Die Führung würde aber die vollständige Übernahme als einer Kapitulation gleichkommend ansehen.
  • Die Taliban sind gewillt, eine längerfristige militärische US-Präsenz und Stützpunkte zu akzeptieren, solange diese nicht die afghanische Unabhängigkeit und islamische Rechtsprechung beeinträchtigen. Im Laufe der Zeit könnte die militärische Präsenz in wirtschaftliche Unterstützung umgewandelt werden.
  • Die Taliban sind, wie aus öffentlichen Erklärungen zu erkennen, in hohem Maße gewillt, die Angriffe auf Lehrer und medizinisches Personal einzustellen.
  • Moderne Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften werden gefördert, sowohl in den Koranschulen wie den Schulen allgemein, wie in einer politischen Erklärung der Taliban zur Erziehung im Frühjahr 2012 unterstrichen wurde.
  • Die Taliban sind sich vollständig bewusst, dass ihre Politik der 1990er Jahre infolge der sich schnell wandelnden Kräfte im heutigen Afghanistan einer Neuausrichtung bedarf.
  • Koedukation von Jungen und Mädchen wird keinesfalls toleriert werden, aber bisherige Modelle in Schule und Arbeitswelt könnten modifiziert werden, um eine strikte Geschlechtertrennung zu gewährleisten.

* Dies ist eine Kurzfassung der Ergebnisse eines Projekts, das vom Royal United Services Institute (rusi) durchgeführt wurde. Die Ergebnisse wurden in einem Briefing Paper vorgestellt, das hier im Original heruntergeladen werden kann: Taliban Perspectives on Reconciliation [pdf, externer Link]

Die Übersetzung besorgte für uns Eckart Fooken.



About RUSI

The Royal United Services Institute (RUSI) is an independent think tank engaged in cutting edge defence and security research. A unique institution, founded in 1831 by the Duke of Wellington, RUSI embodies nearly two centuries of forward thinking, free discussion and careful reflection on defence and security matters.

RUSI consistently brings to the fore vital policy issues to both domestic and global audiences, enhancing its growing reputation as a ‘thought-leader institute’, winning Prospect magazine's Think Tank of the Year Award in 2008 and Foreign-policy Think Tank of the Year in 2009.

Source: Website of RUSI; www.rusi.org




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