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Der Tunnelblick

Literatur und Engagement: Wolfgang Schorlau entlarvt den Krieg der Deutschen am Hindukusch als die eigentliche Bedrohung der Inneren Sicherheit

Von Thomas Wagner *

»Keiner sieht sie kommen. Keiner weiß, daß sie da sind. Und wenn ihre Mission beendet ist, gibt es keinen Beweis dafür, daß sie jemals da waren.« Hier werden keine Killer der organisierten Kriminalität beschrieben, sondern Angehörige des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr, 1997 abgefeiert in der Zeitschrift Bundeswehr, herausgegeben von der Lobbyorganisation Deutscher Bundeswehr-Verband.

Die Einsätze der über 1100 Mann starken Spezialeinheit sind so geheim, daß weder die Ehefrauen der ausnahmslos männlichen Soldaten noch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages oder gar die Presse erfahren dürfen, was die 1996 gegründete Kampftruppe in sogenannten Krisenregionen wie Afghanistan eigentlich treibt. In Wolfgang Schorlaus Krimi »Brennende Kälte« geht es um den Angehörigen einer solchen Militäreinheit, die dem KSK nachempfunden ist.

Ein Stabsfeldwebel kommt nach drei Monaten Einatz im afghanischen Kandahar nach Deutschland zurück und wittert überall nur noch Feinde. Im zivilen Leben operiert er mit militärischem Tunnelblick. In einem Supermarkt dreht er durch und verschwindet spurlos. Seine verzweifelte Ehefrau Sarah schaltet den Privatermittler Georg Dengler ein. Zur gleichen Zeit werden die verkohlten Leichen von zwei Angestellten des Liegenschaftsamts im ehemaligen Luftschutzbunker unter dem Stuttgarter Marktplatz gefunden. Es heißt, diese seien die Opfer eines terroristischen Anschlags. Dengler selbst erlebt bald schmerzhafte Hitzeattacken, deren Ursache er sich nicht erklären kann. Besteht ein Zusammenhang mit einer neu entwickelten Mikrowellenwaffe, die im Kampfeinsatz am Hindukusch erprobt werden sollte?

Im Verlauf des atemberaubend spannenden Politthrillers mit Stuttgarter Lokalkolorit verknüpfen sich die verschiedenen Handlungsstränge zur tödlichen Bedrohung für Georg Dengler. Die in den Krimi eingefügten Berichte von Soldaten aus Afghanistan strafen all jene Politiker Lügen, die den Krieg als »humanitäre Aufbauarbeit« zu beschönigen versuchen. Da wird ein Ziegenhirte kaltblütig von US-Soldaten erschossen, weil er mit seiner Herde unabsichtlich eine neu bezogene Stellung der Truppe enttarnt hat. Ein kleiner Junge, der mit einer leeren Granate spielt, wird bei einer Razzia als vermeintlicher Kombattant getötet. Kommt es inmitten einer Ortschaft zum Gefecht, werden unbeteiligte Zivilisten schon deshalb zu Opfern, weil jedes Geschoß gleich mehrere Häuser durchschlägt.

Diese Berichte sind fiktiv, doch sollen sich die geschilderten Szenen nach Schorlaus Angaben allesamt so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen haben. Auch die Mikrowellenwaffe hat sich Schorlau nicht ausgedacht, sondern nach dessen Angaben bereits in Testversionen vorgestellt, »und vieles spricht dafür, daß sie in Afghanistan eingesetzt wurde.« Es ist der vierte Fall für den ehemaligen BKA-Beamten Georg Dengler. Schorlau läßt keinen Zweifel daran, daß die sogenannten Neuen Kriege die Grundlagen eines friedlichen und sicheren Zusammenlebens in der Bundesrepublik auf schleichende Weise erodieren. Tödliche Amokläufe seelisch schwer beschädigter Kriegsheimkehrer der Bundeswehr sind nur eine Frage der Zeit.

Die Politik mißtraut nicht dem Militär, sondern der Gesellschaft. Im neuen, angeblich fälschungssicheren Reisepaß ist ein Chip eingebaut, der die Möglichkeit staatlicher Überwachung um eine neue Dimension erweitert, ohne daß sich diese Maßnahme kriminalistisch begründen ließe. Denglers Sohn Jakob hat eine Vermutung, warum das Personaldokument trotzdem eingeführt wurde. »›Du weißt doch, welcher Innenminister diese neuen Pässe eingeführt hat?‹ [...] ›Und weißt du auch‹, fuhr Jakob fort, ›daß dieser Minister jetzt bei zwei Firmen dick im Aufsichtsrat sitzt, die diese Pässe beziehungsweise die Geräte dafür herstellen? Und in eine dieser Firmen hat er sich sogar eingekauft.‹« Jakob weiß auch, wie man den Überwachungschip so eines Passes unschädlich macht. Er legt ihn kurz in die Mikrowelle und schaltet das Gerät nur ganz kurz ein und dann wieder aus. »›Auftrag ausgeführt: ein gültiger Reisepaß, aber ohne Chip‹, sagte er. ›Jedenfalls ohne funktionierenden Chip.‹« Wer sich sich darüber informieren will, auf welchen Recherchen Schorlaus engagierter Krimi beruht, dem sei seine übersichtlich gestaltete Homepage empfohlen.

Wolfgang Schorlau: Brennende Kälte. Denglers vierter Fall. Köln, Kiepenheuer & Witsch 2008, 352 S., 7,95 Euro, www.schorlau.com

* Aus: junge Welt, 26. April 2008


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