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Der Traum vom Platz an der Sonne

Deutschland und Afghanistan – eine ambivalente Beziehungsgeschichte

Von Michael Roeder *

Der bisher größte Auslandseinsatz der Bundeswehr wird von Regierung und Bundestagsmehrheit gern mit den »historisch guten Beziehungen« zwischen Deutschland und Afghanistan begründet. Darum soll es hier gehen.

1878 trafen auf dem Berliner Kongress Großbritannien und Russland erneut Absprachen über das von beiden Ländern begehrte Afghanistan. Es kam zu weiteren Annexionen. Aber es trat auch ein neuer Herrscher in Afghanistan an, der »eisernen Emir« Abdur Rahman. Dessen Ziel war es, einen straff organisierten, geeinten Staat zu schaffen und die britische Kontrolle über sein Land zu mindern. Daher begann »Afghanistans Bismarck« eine eigene Waffenproduktion aufzubauen. Er wandte sich an die führende Rüstungsfabrik des Deutschen Reiches, in deren Interesse es durchaus lag, dass ab 1898 der deutsche Techniker Gottlieb Fleischer, Angestellter der Fa. Krupp, in der Waffenfabrik von Kabul beschäftigt wurde.

Der erste staatliche Kontakt fand im Ersten Weltkrieg statt und war bestimmend für den Charakter der Beziehungen zwischen beiden Staaten. 1915 traf die Hentig-Niedermayer-Mission in Kabul ein. Das Deutsche Reich wollte eine weitere Front gegen Großbritannien eröffnen und damit die britischen Kräfte in Europa schwächen. Die dortigen Stämme sollten zu einem Angriff auf Britisch-Indien bewegt werden, um so eine allgemeine Erhebung gegen die britische Kolonialmacht auszulösen. Der Plan scheiterte, aber der Vertrag von 1916 enthielt einen Abschnitt, worin das Deutsche Reich in einer wohlfeilen Geste Afghanistans Unabhängigkeit anerkannte, also als erste europäische Großmacht keine Herrschaftsansprüche erhob, vielmehr Afghanistan in seinem Kampf für Unabhängigkeit von Großbritannien zu unterstützen bereit war. Seitdem gilt Deutschland als Freund, obwohl es gar nicht zu kolonialen Ansprüchen in der Lage war und seine politische Unterstützung sich aus den globalen Zielen im Kampf um einen »Platz an der Sonne« ergab. Im November 1918 war mit der bedingungslosen Kapitulation diese erste Phase zu Ende.

König Amanullah wollte sein 1919 unabhängig gewordenes Land aus der Isolation führen und modernisieren. Als Partner bot sich Deutschland an. Berlin war jedoch sehr zurückhaltend aufgrund der krisenhaften Entwicklung der Weimarer Republik. Es war die afghanische Regierung, die 1921 eine Mission nach Deutschland sandte, um Firmen und Fachleute anzuwerben. Im folgenden Jahr schickte Siemens eine Delegation, und bald waren mehr als hundert deutsche Ingenieure am Bau von Straßen, Staudämmen, Bewässerungsanlagen und E-Werken beteiligt. Im Laufe der 20er Jahre stieg die Weimarer Republik zum drittgrößten Handelspartner Afghanistans auf.

1928 stattete König Amanullah Deutschland einen Staatsbesuch ab, um den Ausbau der Beziehungen zu fördern. Aber da es auf deutscher Regierungsseite kein langfristiges Konzept für eine Afghanistanpolitik gab, erhielt er nur einen Kredit über sechs Millionen RM. Dennoch war Afghanistan in der Zeit zwischen den Weltkriegen das einzige deutsche Standbein in Asien. Dazu trug auch die 1924 in Kabul gegründete deutschsprachige Amani-Oberrealschule bei. Für zahlreiche Absolventen schloss sich ein Studium an einer deutschen Universität an. Seit den 30er Jahren gibt es keine afghanische Regierung, in der nicht wenigstens ein Mitglied aus diesem Bildungsgang hervorgegangen ist. So entstand bei Teilen der Elite eine enge emotionale Bindung an Deutschland, die bis heute wirksam ist.

Mit dem Machtantritt der NSDAP veränderte sich die Situation im deutsch-afghanischen Verhältnis zunächst kaum. Der Umschwung war erst 1936 spürbar, als das »Dritte Reich« dem Land einen neuen Kredit über 15 Millionen RM gewährte. Damit wurden u.a. Industrieobjekte der Elektrizitätsgewinnung und Textilproduktion umgesetzt, die Ausbildung von Technikern gefördert und Straßen gebaut. Und seit 1938 machte die Lufthansa auf dem Flug nach Schanghai sogar eine Zwischenlandung in Kabul. Im Laufe der 30er Jahre ging die Entwicklung so weit, dass 70 Prozent der afghanischen Industrieausrüstung aus Deutschland stammten.

Der Ausbau Afghanistans als deutsches Standbein in Asien hatte also Fortschritte gemacht. Das war insofern wichtig, als im Rahmen der Orientstrategie der Nazis das Land eine Rolle spielen sollte. Daher stellte die NS-Regierung die Aufrüstung des Landes zunehmend in den Mittelpunkt. Sie lieferte Material, um eine »Musterdivision« aufzubauen und die Luftwaffe zu entwickeln. Damals begann auch die Ausbildungshilfe für die afghanische Polizei, deren Funktionieren als Herrschaftsinstrument aus Sicht der Zentralregierung besonders wichtig war in dem ethnisch und politisch derart stark zersplitterten Land.

In den NS-Plänen zur Erlangung einer Weltmachtstellung war Afghanistan als Brückenkopf vorgesehen, von dem aus – war erst einmal die Sowjetunion niedergeworfen – der Angriff auf Britisch-Indien stattfinden sollte. Dieser Plan war mit dem Scheitern der deutsche Offensive im Kaukasus 1942 hinfällig. Übrig blieb, dass seit 1941 dort das Sonderkommando »Brandenburger« geheimdienstlich tätig war. Es suchte eine afghanische Persönlichkeit, die zum »Heiligen Krieg« gegen die Briten aufzurufen bereit wäre, und den Kontakt mit dem antibritischen Widerstand in Indien. Beides misslang, und mit der Niederlage des Dritten Reiches im Krieg war diese zweite Phase ebenfalls beendet.

Aus afghanischer Sicht bestanden keine Bedenken, schon bald nach Kriegsende sich der BRD zu nähern. Hier trug die erwähnte emotionale Bindung an Deutschland Früchte: Der Bürgermeister von Kabul, in den 20er Jahren Student in Deutschland, stellte bereits 1949 die Verbindung mit westdeutschen Experten und Firmen wieder her. Ab 1955 gab die BRD staatliche Unterstützung in Form von unentgeltlicher technischer Hilfe und durch Gewährung langfristiger und sehr günstiger Kredite. Afghanistan wurde erneut ein Schwerpunkt (west)deutscher Entwicklungshilfe, die sich bis Ende der 70er Jahre insgesamt auf etwa 400 Millionen US-Dollar belief. Damit war die BRD der drittwichtigste Geldgeber (nach Sowjetunion und USA), Afghanistan seinerseits der drittwichtigste Empfänger westdeutscher Entwicklungshilfe (nach Indien und Ägypten). Zu den Tätigkeitsbereichen zählte u. a. wieder die Ausbildung und Beratung der Polizei, außerdem der Aufbau des Gesundheitswesens sowie von Presse und Kommunikation. Das größte Projekt war jedoch die Entwicklung von Forst- und Landwirtschaft in einer ganzen Provinz (Paktia), eines der größten westdeutschen Entwicklungsprojekte überhaupt. Ende der 60er Jahre arbeiteten über 800 deutsche Experten im Lande.

Nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet hatte die BRD wieder alte Positionen eingenommen und im Vergleich zur Vorkriegszeit ausgedehnt, sondern auch im kulturellen Bereich. Schon 1950 kamen die ersten Afghanen zum Studium in die BRD. Die deutsche Schule unterrichtete weiterhin, und in Kabul wurden u. a. ein Goethe-Institut sowie eine Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts eröfffnet.

Mit dem sowjetischen Einmarsch 1979 erfuhren die deutsch-afghanischen Beziehungen die dritte Unterbrechung. Fazit von über 65 Jahren wäre: Im wirtschaftlichen und im kulturellen Bereich stand Deutschland glänzend da; auf dem militärischen Sektor war Deutschland jedoch zweimal gescheitert.

Die Einladung zur Petersberger Konferenz Ende 2001 wurde von Afghanen aller politischen Richtungen begrüßt, da die BRD weiterhin als ehrlichen Makler ohne neokoloniale Eigeninteressen galt, und es wurde gutgeheißen, dass sie jetzt wieder all die »traditionellen« Positionen einnehmen würde, die Deutschland während des 20. Jahrhunderts innegehabt hatte. Dazu gehören Polizei und Bildungswesen. Seit 2001 ist Afghanistan wieder eines der größten deutschen Entwicklungsprojekte weltweit. Federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Über konkrete Projekte wie z. B. Trinkwasser- und Energieversorgung hinaus ist ihr Generalziel die »Gestaltung einer investitions- und unternehmerfreundlichen Wirtschaftsverfassung«. 90 Prozent der Waren auf dem afghanischen Markt sind Importe. Es ist gelungen, Afghanistan der deutschen Wirtschaft völlig zu öffnen – als Ausgangspunkt für den mittelasiatischen Raum.

Und schließlich – auch begrüßt von afghanischer Seite – steht erstmals deutsches Militär im Land. Aus den ursprünglichen sechs Monaten sind acht Jahre geworden. Die Kosten fürs Militär sind mit drei Milliarden Euro dreimal so hoch wie die staatlichen Investitionsausgaben. Während sich die BRD bis 1990 auf ihre starke weltwirtschaftliche Rolle beschränken musste, haben sich nun Chancen aufgetan, auch weltpolitisch Bedeutung zu erlangen. Deshalb beteiligt man sich an Kriegseinsätzen out of area. Und der Afghanistankrieg dient dazu, die deutsche Bevölkerung ans Kriegführen zu gewöhnen.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Januar 2010


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