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Einsatz gegen "afghanische Autonome"?

Frank Tempel kam aus dem Thüringer Kriminaldauerdienst in den Bundestag und macht sich Gedanken um Kollegen am Hindukusch

Die Bundesrepublik verfolgt eine neue Afghanistan-Strategie, heißt es. Inhalt: Mehr Soldaten, mehr Mittel für den zivilen Aufbau, Geld, um Taliban zur Aufgabe zu bewegen. Zudem soll die Ausbildung afghanischer Polizisten verstärkt werden. Deutschland will statt der bislang 123 in Afghanistan eingesetzten Beamten demnächst 200 am Hindukusch shaben. Macht das Sinn? Fragen an Frank Tempel, Polizist aus Thüringen und Bundestagsabgeordneter der Linksfraktion.

ND: Man mag sich um den Begriff »Krieg« noch so herumdrücken, doch in Afghanistan ist Krieg. Wie kann man da Polizisten für eine Zivilgesellschaft ausbilden?

Tempel: Fragen Sie unseren Bundesinnenminister. Was der sagt, würde ich am liebsten als Plakat in jede Dienststelle hängen, damit jeder Kollege weiß, wie sich der Minister um ihn sorgt. Er will, dass man keine »künstlichen Hürden« für Einsätze in Kriegsgebieten aufbaut und meint daher: »Jeder Innenminister darf von seinen Polizeibeamten erwarten, dass sie sich in Gefahren begeben, ob bei der Räumung eines besetzten Hauses, einem Amoklauf in einer Schule oder bei Einsätzen gegen brutalste Schläger aus der Fußballszene oder aus der sogenannten autonomen Szenen. Zu sagen, Polizei darf nicht dahin gehen, wo es gefährlich wird, wäre das Ende von Polizei.« Der Herr de Maizière setzt die Auseinandersetzung mit Autonomen oder mit Betrunkenen auf der Straße gleich mit dem Einsatz im Kriegsgebiet. Das ist ein unmöglicher Vergleich! Der meint auch, euer Leben darf man riskieren, ihr seid ja verbeamtet.

Der neue Innenminister ist eigentlich dafür bekannt, dass er seine Worte sorgsam abwägt?

Ja. Die Melodie klingt bei ihm sanfter, umso mehr muss man auf den Text hören. Er setzt Schäubles Kurs fort, ob es nun um Bundeswehreinsätze im Inland oder Polizeieinsätze im Ausland geht.

Der Polizeieinsatz sei notwendiger denn je, heißt es nach der Londoner Afghanistan-Konferenz. Kritiker zweifeln. All das, was wir in acht Jahren nicht geschafft haben, werden jetzt 77 zusätzliche deutsche Polizeiausbilder erreichen?

Da muss ich noch einmal de Maizière zitieren. Er sagt: »Schließlich gab es das Berufsbild des Polizisten, so wie wir es verstehen, dort nicht. Die örtliche Sicherheit wurde traditionell anders geregelt.« Stimmt, die lokalen Fürsten hatten - und haben - das Sagen und damit auch Exekutive, Legislative und Judikative in einem. Das ist eine andere Rechtskultur.

Wenn wir jetzt dort noch mehr Polizisten ausbilden, dann fehlt immer noch das Eigentliche, das neu geregelt werden muss: eine neue Organisationsstruktur der Polizei. Zu einer Polizei, die halbwegs auf demokratischen Fundamenten steht, gehört ein entsprechendes Rechtssystem. Die Aufgaben, die Struktur, die Methodik der Ordnungshüter müssen diesem Rechtssystem unterliegen. Und natürlich gehört auch eine finanzielle Absicherung des Ganzen dazu.

Welche Polizei wollen wir denn aufbauen? Eine nach unserem Wertebild?

Wir sagen - zumindest sehe ich das so - dass eine Polizei im Prinzip eine Polizei für den Bürger sein muss. Sie muss entsprechend dem Recht für Gerechtigkeit sorgen. Das bedeutet auch, den Schwächeren vor dem Stärkeren zu schützen. Die Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft ist ständige Aufgabe. Das umzusetzen in einem Land, das dieses Wertesystem aber gar nicht in sich trägt, ist extrem schwierig.

Wir könnten fünfmal so viele Polizisten ausbilden wie bisher und hätten damit keine neue Polizei?

Ja. Was bringt es, wenn einer jede Menge Kfz-Schlosser ausbildet, ohne ein Autohaus mit Werkstatt zu besitzen? Man darf sich nicht wundern, wenn unsere Polizeiausbildung in Afghanistan eigentlich eine Unterstützung örtlicher Milizen ist. Das wird keiner der Verantwortlichen zugeben. Dem Machtmissbrauch sind wie ehedem Tür und Tor geöffnet. Wir wissen überhaupt nicht, was aus den von Deutschen ausgebildeten Polizisten wird.

Die Verantwortung liegt bei der Regierung in Kabul ...

Und im Prinzip ist das richtig. Doch Menschen werden durch die Umwelt geprägt. Es nützt die ganze Ausbildung nichts, wenn die Realität dort eine andere ist. Auch deswegen sollte man überlegen, ob man die Auszubildenden nicht mit einer anderen gesellschaftlichen Realität bekannt machen muss. Wer sagt, dass die Ausbildung durch deutsche Kollegen nur in afghanischen Camps gewährleistet werden kann? Wieso bilden wir sie nicht hier bei uns aus? Und wieso bilden wir nur so wenige Polizisten aus? Wieso nicht mehr Polizeiausbilder? Ganz nach dem Schneeballprinzip könnten 200 Afghanen, die wir in unseren deutschen Ausbildungsstätten schulen, in ihrer Heimat 1000 Kollegen fit machen für ihren Dienst.

Zusatzeffekt - weniger Gefahr für deutsche Ausbilder?

Richtig. Und wir wissen doch spätestens seit Einigungszeiten, wie es gemacht werden kann. Das habe ich selbst erlebt Anfang der 90er Jahre. 1992/93, als ich bei der Polizei angefangen habe, waren schon so viele ostdeutsche Kollegen von Experten aus dem Westen in die Lage versetzt worden, selbst Nachwuchs heranzubilden. Es reichten vor Ort ein paar Berater aus den alten Ländern.

Warum nutzt man diese Erfahrungen nicht? Kann es damit zu tun haben, dass unsere Regierung Polizisten als zivil auftretenden Militärersatz vor Ort haben will?

Ja, das ist die einzige logische Erklärung. Wenn ich höre, wie die Kollegen rausgehen, dann ist das nichts anderes als eine militärische Absicherung. Sturmgewehre gehören zur Ausrüstung, man nutzt gepanzerte Fahrzeuge. Das ist alles andere als eine klassische Polizeiausrüstung. Die Regierung weiß genau, dass es rechtlich überhaupt nicht zulässig ist, Polizisten in ein Kriegsgebiet zu stecken.

Eine Ausbildung in Deutschland würde - so man ein entsprechendes Praktikumssystem aufbaut - auch helfen, dass die afghanischen Kollegen zivile Polizeiarbeit direkt miterleben. Wir müssen natürlich das Praktikum in Bereichen machen, wo Bürgernähe praktiziert wird. Auch in Deutschland ist die Polizei ja nicht davor gefeit, statt Polizei des Bürgers Polizei des Staates zu sein.

Ein alltägliches Beispiel: Es ist schwierig, jedem afghanischen Polizisten beizubringen, dass eine Frau nicht nur im normalen Leben die selben Rechte hat wie ein Mann, sondern dass das auch auf eine straffällig Gewordene zutrifft. Kollegen, die vor Ort waren, berichten, dass festgenommene Frauen nicht als Menschen behandelt werden. Missachtung geht hin bis zur Vergewaltigung in der Haft.

Durch Polizisten?

Durch Polizisten. Wo kein Unrechtsbewusstsein ist, kann auch kein Rechtsbewusstsein gedeihen.

Immer wieder gibt es Vorwürfe, dass afghanische Polizisten - wenn sie nicht desertieren - zur Korruption neigen. Wie geht man als deutscher Ausbilder damit um?

Idealismus ist dünn gesät. Und leben kann man dort von dem, was der gefährliche Polizeijob einbringt, auch nicht. Man muss dem afghanischen Polizisten etwas bieten. Er braucht Anerkennung und Autorität ebenso wie einen anständigen Lohn, damit er seine Familie durchbringt. Das alles sind bislang nur Wunschträume.

Nicht nur deutsche Polizisten bilden afghanische Polizisten aus. Gibt es wenigstens gemeinsame Grundlagen des Trainings?

Bundeswehr-Feldjäger bilden aus, ebenso Gendarmen anderer EU-Staaten, US-Truppen backen Hilfspolizisten in Kursen, die nur wenige Wochen dauern. So baut man keine Polizei auf. Zur Polizei gehört eine gewisse Rechtsausbildung und Psychologie dazu. Neben polizeilichem Handwerk. Das ist nicht in Crashkursen zu vermitteln. In denen bringt man den Leuten bei, wie sie Waffen bedienen, Befehlen gehorchen. Dazu ein bisschen körperliche Ertüchtigung und militärisches Training. Das ist eine Ausbildung von Milizen, das hat nichts mit Polizei zu tun.

Es ist nicht nur so, dass das einheitliche System fehlt, es fehlt auch die Klarheit darüber, was für ein System man überhaupt will. Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert, dass man nicht genügend Leute für Afghanistan hat. Es geht nur um 200 ... Würden sie das GdP-Argument auch unterschreiben, wenn sie nicht Mitglied dieser Gewerkschaft wären?

Ich bin weiter an die Verschwiegenheitspflichten gegenüber meinem Dienstherrn gebunden. Daher nur so viel: Manche Landespolizei hat schon Probleme, wenn sie für irgendeinen Einsatz hierzulande 20 Leute abstellen soll. Die Personalzahlen sind auf ein Minimum geschrumpft worden. Es gibt immer mehr Aufgaben, doch nicht mehr Polizisten. Die Schmerzgrenze ist vor ein paar Jahren bereits überschritten worden. Das merkt man im normalen Polizeialltag einfach in der Überlastung der Beamten in vielen Bereichen, was zu Frustration führt, was auch die Polizei-Bürger-Kommunikation stört.

Wenn Soldaten nach Afghanistan befohlen werden, muss die Regierung ein Mandat einholen. Polizisten ordnet man ohne Parlament ab. Wie logisch ist das?

Gar nicht logisch. Es sei denn, man stellt sich auf die Position der Mächtigen, die nur für sie nutzbare demokratische Kontrolle zulassen möchten. Bisher konnten wir es nicht durchsetzen, dass auch internationale Polizeieinsätze unter Parlamentsvorbehalt stehen. In meinen Augen ist das aber absolut notwendig.

Gespräch: René Heilig

* Frank Tempel (41), geboren in Belzig (heute Brandenburg), wollte Offizier bei den DDR-Grenztruppen werden. Die Wende verhinderte den Abschluss der Offiziersausbildung. Tempel meldete sich zum mittleren Polizeivollzugsdienst in Thüringen, absolvierte ab 1996 die Polizeischule Meiningen, wurde Diplomverwaltungswirt und 1999 zum Kriminalbeamten im gehobenen Dienst ernannt. Seit 1995 ist er in der Gewerkschaft der Polizei aktiv, darunter zwei Jahre als Landesvorsitzender der Jungen Gruppe der GdP in Thüringen. 2009 zog Frank Tempel über einen Listenplatz auf der Landesliste der LINKE in den Bundestag ein.
Tempel ist verheiratet, Vater von drei Kindern, sportbesessen und kümmert sich um Fußball-Nachwuchsarbeit.


Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2010


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