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Versinken die USA im afghanischen Sumpf?

Der neue Befehlshaber der ISAF-Truppen in Afghanistan, David Petraeus, hat von seinem Vorgänger, Stanley McChrystal, ein schweres Erbe übernommen

Von Pjotr Gontscharow *

Der amerikanische General Petraeus trat am 4. Juli offiziell sein neues Amt an. Die internationalen Truppen haben die Taliban bislang nicht in die Knie zwingen können. Jetzt wurde außerdem bekannt, dass die ersten sechs Monate dieses Jahres die blutigsten seit Kriegsbeginn im Herbst 2001 waren. Das verkündete die Menschenrechtsorganisation Afghanistan Rights Monitor, die seit den ersten Tagen des US-Einmarsches die Verluste unter der Zivilisten am Hindukusch zählt, am 12. Juli.

Zwischen Januar und Juni waren in Afghanistan insgesamt 1074 Zivilisten ums Leben gekommen und weitere 1500 verletzt worden. In den ersten sechs Monaten des Vorjahres waren 1059 Zivilisten getötet worden.

Jeder Krieg wird von Politikern verursacht, wobei Soldaten immer die Verlierer sind. Die Operation in Afghanistan bildet da keine Ausnahme. Der Sündenbock wurde bereits gefunden: der bisherige Befehlshaber der Koalitionskräfte, McChrystal. Der Vier-Sterne-General, der vor seiner Ernennung in Afghanistan das Joint Special Operations Command (JSOC) geleitet und an der jetzigen US- und Nato-Strategie in Afghanistan mitgearbeitet hatte, bot dafür genug Angriffsfläche.

Der neue Befehlshaber General Petraeus hat Recht, wenn er sagt, dass der Einsatz am Hindukusch die entscheidende Phase erreicht hat. Seine Worte sollte man folgenderweise verstehen: Entweder kann er die Politik der halbherzigen Maßnahmen der Obama-Regierung wenden oder die USA und die Nato versinken im afghanischen Sumpf.

Petraeus ist noch nicht so in Rage geraten, wie sein Vorgänger McChrystal, der in einem Interview für die Zeitschrift „Rolling Stone" Obamas Administration vorwarf, die Situation in Afghanistan zu verkennen. Doch bei Petraeus ist bereits dieselbe Tendenz zu erkennen. Es werde keine prinzipiellen Änderungen zur Strategie seines Vorgängers geben, präzisierte der General.

Außerdem gab Petraeus zu verstehen, dass er genauso wie McChrystal auf die Meinung von Zivilisten pfeift, mit denen er nicht zusammenarbeiten will. Doch ausgerechnet das war der Grund, warum McChrystal von Präsident Obama in die Wüste geschickt worden war.

In diesem Kontext stellt sich die Frage: Sind die Widersprüche zwischen den politischen und militärischen Beratern Obamas und den Urhebern sowie Umsetzern der neuen Strategie zu groß, um sie durch die Ernennung eines neuen Befehlshabers zu überwinden? Alles sieht danach aus.

McChrystals Strategie am Hindukusch ist konzeptuell einfach: Die Verluste unter friedlichen Einwohnern minimieren, die Initiative übernehmen, die Opponenten in Afghanistan zu Verhandlungen zwingen und die afghanische Armee sowie Polizei ausbilden, damit sie die Lage im eigenen Land ohne auswärtige Hilfe kontrollieren können.

Bemerkenswert ist, dass für McChrystal nicht die „Initiative", sondern die Sicherheit der friedlichen Bevölkerung am wichtigsten war. Er begrenzte sogar den Einsatz der Luftwaffe und Artillerie, um Verluste unter den Einwohnern zu verhindern.

Es ist klar, was dahinter steckt: McChrystal hatte den Kampf um die afghanischen Straßen begonnen. Seine ganze „neue Anti-Rebellen-Strategie", wie sie im Nato-Expertenklub bekannt ist, hat das Ziel, die friedliche Bevölkerung zu beschützen. Die „Initiative" und zugleich die Kontrolle über die Provinzen opferte der General zugunsten des „Schutzes der afghanischen Bevölkerung vor den Rebellen" auf. Er setzte alles aufs Spiel. Es bleibt nur noch eine Kleinigkeit: einfache Afghanen müssen sich jetzt bereit zeigen, sich um das ihnen angebotene Programm zu einer Neugestaltung ihres Lebens zu vereinigen.

Meines Erachtens sind sie dazu bereit. Ich bin mir aber auch sicher, dass sie keine Zeit haben, um sich zu vereinigen. Denn viel zu wenig Zeit hat ihnen Obama dafür gelassen. Bereits im Juli 2011 soll der Abzug der US-Kräfte vom Hindukusch beginnen, wobei die von McChrystal entwickelte „Obamas Strategie" erst Ende 2009 gebilligt wurde. In dieser kurzen Zeit können die USA und die Nato nicht einmal einen der elf Punkte des McChrystal-Plans umsetzen.

Der Plan umfasst elf Bereiche des friedlichen Lebens der Afghanen, die der General beeinflussen und damit die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung schwächen wollte. Erstens geht es um die Stärkung der Sicherheit der Einwohner, zweitens um Informationsinitiativen, drittens um die Entwicklung des afghanischen Justizsystems. Viertens sollte die afghanische Regierung verantwortungsvoll und offen vorgehen. Fünftens sollte die Regierung von der Bevölkerung gewählt werden. Sechstens wollte McChrystal die Intoleranz der Bevölkerung bekämpfen. Siebtens sollten in Afghanistan viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Achtens ging es um die Entwicklung der Land- und Marktwirtschaft, neuntens um die Organisation von Handelsplätzen ohne Beteiligung der Rebellen. Zehntens legte General McChrystal großen Wert auf den Kampf gegen den Drogenhandel und die Korruption, gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität. Elftens plädierte er für die Reintegration der Zweifelnden in den Staat und die Gesellschaft.

Stanley McChrystal war in Afghanistan wie Don Quichotte, und seine „neue Strategie", seine Dulcinea, ist zweifellos edel und schön. Sie sieht den Kampf gegen die Gewalt durch die Schaffung von würdigen Lebensbedingungen vor. Deren härteste Punkte in Bezug auf Terroristen sehen wie die „Bekämpfung der Intoleranz unter der Bevölkerung" aus. Die Liste der neuen Werte wird von der „Reintegration der Zweifelnden in den Staat und die Gesellschaft" gekrönt. Stellen Sie sich einmal vor: „die Zweifelnden" und nicht „die Befürworter des afghanischen Grundgesetzes, die Waffen niedergelegt und jegliche Kontakte mit der Al-Kaida aufgegeben haben", woran wir eher gewöhnt sind.

Und dennoch ist McChrystals Strategie keine Utopie. Für ihre Umsetzung sind allerdings zwei Bedingungen erforderlich. Erstens sollte es dabei keine Fristen geben. Zweitens sind dafür viel Aufwand und Geld erforderlich - soviel wie nötig und wenn es gebraucht wird und nicht später.

Barack Obama verplemperte zuviel Zeit, um weitere 30.000 Soldaten nach Afghanistan zu schicken - dieses Kontingent war dort vor einem Jahr erforderlich. Jetzt ist es aber nur eine halbe Sache, weil mindestens 100.000 neue Soldaten nötig sind, um die Situation in den Griff zu bekommen. Dieser Meinung ist unter anderem der französische General Vincent Desportes, der an der Spitze des elitären Militärkollegs steht, in dem Topkommandeure für die französischen Streitkräfte ausgebildet werden. Ein „Halbkrieg" wäre in Afghanistan unmöglich. Entweder sollten 100.000 Soldaten oder niemand dorthin entsendet werden, so der General.

Auch die von Washington festgesetzte Frist für den Beginn des Truppenabzugs (Juli 2011) stimmt nicht mit dem Abschluss dieses Prozesses überein, der auf der Stabilität der Situation und der Fähigkeit der afghanischen Armee und Polizei beruht, das Land kontrollieren zu können. Selbst die wichtigsten Nato-Partner der USA in Afghanistan haben da ihre Zweifel. So warnte der deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, es wäre am schädlichsten, den Abzug zeitlich festzulegen. Ihm zufolge sollte man lieber auf den Beginn der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren.

Noch konkreter formulierte der einstige US-Außenminister Henry Kissinger das Problem der USA in Afghanistan. Ihm zufolge sollte die Strategie des Weißen Hauses an die jetzige Realität am Hindukusch angepasst werden. Das ist aber der schwächste Punkt in Obamas Strategie, dass die USA Gefahr laufen, im afghanischen Sumpf zu versinken.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 14. Juli 2010, http://de.rian.ru



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