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NATO weiter im Irrtum: 27 Tote

ISAF-Strategie in ihr Gegenteil verkehrt / SPD stimmt neuem Afghanistanmandat zu

Von René Heilig *

Bei einem NATO-Luftangriff in der afghanischen Provinz Urusgan wurden am Sonntag (21. Feb.) nach Regierungsangaben mindestens 27 Zivilisten getötet und 12 verletzt. Unter den Opfern seien vier Frauen und ein Kind, erklärte die Regierung in Kabul. Das dortige Kabinett verurteilte den Angriff, dieser sei »nicht zu rechtfertigen«.

Die erneute Tötung von Unbeteiligten war der ISAF-Führung am Montag zwölf Zeilen wert. Ohne Angabe von Opferzahlen sprach man von einem Irrtum. Man habe in den drei Kleintransportern Aufständische vermutet. Als Bodentruppen eingetroffen sind, fand man Frauen und Kinder vor. Umgehend seien die Verletzten medizinisch betreut worden. Die ISAF-Führung leitete eine Untersuchung ein und deren Oberkommandierender, der US-General Stanley McChrystal, zeigte sich »zutiefst betrübt über den tragischen Verlust unschuldigen Lebens«.

McChrystal hatte im Juli 2009 eine neue Strategie versprochen, die den »Schutz der Bevölkerung« zum oberstes Ziel erhebt. Es gehe um den »Respekt« und die »Zustimmung« der Afghanen. Der General – so eine ISAF-Mitteilung – habe den Truppen nun abermals »klargemacht«, dass man da sei, »um die afghanischen Menschen zu schützen, und dass das versehentliche Töten oder Verletzen von Zivilisten ihr Vertrauen und ihren Glauben in unsere Mission untergräbt«. Man wolle die »Anstrengungen, das Vertrauen wiederzugewinnen, erneut verdoppeln«.

Es war bereits das dritte Mal in einer Woche, dass bei NATO-Luftangriffen Zivilisten getötet wurden. Am Montag vergangener Woche waren in der südlichen Provinz Kandahar fünf Zivilisten getötet worden. Am Donnerstag wurden in der von Deutschland zu verantwortenden Provinz Kundus sieben afghanische Polizisten umgebracht, die mit US-Spezialeinheiten unterwegs waren.

Noch am Montag (22. Feb.) war der Ort des Geschehens nicht eindeutig. Während die Regierung in Kabul die Provinz Daikondi nennt, geht die ISAF davon aus, dass der Angriff in der benachbarten Provinz Urusgan und damit im Verantwortungsbereich des niederländischen Kontingents stattfand. Unklar ist auch, welcher Nationalität die angreifenden Jets waren. Im vergangenen Jahr hatten niederländische F-16-Piloten neun Unschuldige getötet. Die Regierungskoalition in Den Haag war am Wochenende am Thema Afghanistan zerbrochen. Die NATO hatte gefordert, den für 2010 festgelegten Abzug der Niederländer bis zum August 2011 herauszuzögern. Das lehnten die mitregierenden Sozialdemokraten ab.

Der afghanische Präsident Hamid Karsai hatte bereits am Samstag die Tötung von Zivilisten bei der NATO-Militäroffensive im Süden seines Landes scharf kritisiert. Während einer Rede zeigte Karsai ein Foto eines achtjährigen Mädchens. Es ist die einzige Überlebende eines NATO-Angriffs mit zwölf Toten unweit von Mardscha.

Im Umland der südafghanischen 80 000-Einwohner-Stadt läuft seit gut einer Woche eine Offensive von ISAF- und afghanischen Truppen. Gegenüber dem TV-Sender NBC betonte US-General David Petraeus, der im Central Command für Irak und Afghanistan zuständig ist: »Die Operation in Mardscha ist die erste Salve« in der neuen Strategie gegen die Taliban.

2009 hat der Krieg in Afghanistan mehr Zivilisten das Leben gekostet als je zuvor seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Analysen der UN-Mission in Afghanistan besagen: 2008 hatte man mit 2118 zivilen Opfern einen Anstieg um 40 Prozent zu verzeichnen, 2009 stieg die Opferzahl auf 2259. Jedes vierte zivile Opfer sei direkt von Pro-Regierungskräften einschließlich der westlichen Truppen zu verantworten.

Am Freitag (26. Feb.) wird der Bundestag über ein neues, von Schwarz-Gelb eingebrachtes Bundeswehrmandat entscheiden. Der SPD-Parteivorstand hat sich gestern für Zustimmung ausgesprochen. Angeblich stößt die Linie, den Einsatz erst bis 2015 zu beenden, bei der Parteibasis weitgehend auf Zustimmung.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2010


Kritische Kriegsbegleiter

Von Roland Etzel **

Die SPD hat sich erklärt. In der Frage der Aufstockung der deutschen Truppen für Afghanistan am Freitag im Bundestag werde die Partei »der Fraktion eine Zustimmung empfehlen«. Aber, so Generalsekretärin Andrea Nahles, die Partei werde den Einsatz weiter »kritisch begleiten«. Das wird sie sicher tun, da ist auf die SPD Verlass, schon länger.

»Wir fordern, dass dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden ... Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden den Abscheu vor dem Krieg wecken wird.«
Von diesen Grundsätzen geleitet, bewillige die SPD das Geforderte. Das sagte nicht der aktuelle Vorsitzende, sondern der von 1914 nach seiner Zustimmung zu den Kriegskrediten, die der Kaiser für den Weltkrieg verlangte. Das Ende ist bekannt.

Auch ISAF-Chef General McChrystal will nur das Beste. Seine neue Afghanistan-Strategie dient nicht nur der kritischen Begleitung, er macht den Krieg selbst, um »die afghanischen Menschen zu schützen«. Dies sei die neue Strategie. Mindestens 27 dieser Menschen – Zivilisten, für die anderen gibt es nicht einmal verbales Bedauern – bezahlten dafür am Sonntag mit ihrem Leben. »Wir werden unsere Anstrengungen, dieses Vertrauen wiederzugewinnen, erneut verdoppeln«, versprach der General nun. Die Drohung lässt schaudern.

** Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2010 (Kommentar)


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