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Gemäßigte Taliban gesucht

USA bekräftigen Gesprächsbereitschaft gegenüber Islamisten und wollen mehr NATO-Truppen

Von Olaf Standke *

Drei Wochen vor dem NATO-Jubiläumsgipfel hat USA-Vizepräsident Joe Biden am Dienstag (10. März) in Brüssel das Militärbündnis zu verstärkten gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen islamische Extremisten in Afghanistan aufgerufen, aber auch die Offenheit seiner Regierung für Gespräche mit »gemäßigten Taliban« bekräftigt.

Moderate Taliban gesucht - so könnte man den schlagzeilenträchtigsten Aspekt der längst noch nicht ausformulierten neuen Afghanistan-Strategie von USA-Präsident Barack Obama zusammenfassen. Sein Vize Biden versuchte sie gestern den Bündnispartnern im Brüsseler NATO-Hauptquartier schmackhaft zu machen. Aus Berlin wurde umgehend Unterstützung signalisiert. Washingtons Gesprächsangebot sei ein »konsequenter Schritt, wenn man die afghanische Politik ernst nimmt«, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD).

Obamas Vorgänger Bush wären derartige Überlegungen nie über die Lippen gekommen, neu sind sie allerdings nicht. Erlers einstiger Parteichef Kurt Beck etwa hatte vor zwei Jahren einen solchen Vorschlag ins Gespräch gebracht und musste sich heftige Kritik gefallen lassen, auch aus Kabul. Immer stärker mit dem Rücken zur Wand, hat die dortige Regierung wenig später den Taliban dann doch offizielle Kontakte angeboten. Erste Geheimgespräche soll es sogar schon 2006 gegeben haben. Sie brachten keine sichtbaren Ergebnisse. Und auch der Appell von Präsident Hamid Karsai an die Fundamentalisten, »auf der Basis der Verfassung« Gespräche zu führen, stieß auf taube Ohren. Vielmehr hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert: Im Vergleich zu 2007 stiegen die gewalttätigen Vorfälle im Vorjahr um ein Drittel, dabei kamen laut UN-Angaben über 2100 Zivilisten ums Leben, das sind 40 Prozent mehr. Für 55 Prozent dieser zivilen Opfer machten die Vereinten Nationen Aufständische verantwortlich, für 39 Prozent ausländische und afghanische Truppen.

Auch jetzt wieder haben die Taliban den Dialog-Vorstoß abgelehnt. Das Angebot von Obama sei schlicht unlogisch: »Die Taliban sind vereint, haben einen Führer, ein Ziel, eine Politik«, sagte ihr Sprecher Kari Mohammad Jusuf gestern. »Ich weiß nicht, warum sie über gemäßigte Taliban reden und was es bedeutet.« Wenn es sich um ein Angebot an jene handeln sollte, die zu Hause säßen und nicht kämpften, sei das Gespräch mit ihnen bedeutungslos. Der einzige Weg zur Beendigung des Krieges sei der Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan.

Genau das aber wird nicht passieren. Die USA wollen 17 000 zusätzliche Militärs entsenden. Dort sind bereits 38 000 US-Soldaten sowie 25 000 Soldaten aus weiteren NATO-Staaten im Einsatz. Mit Blick auf Washingtons Forderungen nach mehr Unterstützung am Hindukusch verwies Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) darauf, dass Deutschland 600 weitere Soldaten nach Afghanistan schicken werde. Unmittelbar vor seinem geplanten Besuch in Kundus sind gegen das dortige Bundeswehr-Feldlager gestern zwei Raketen abgefeuert worden. Opfer gab es dieses Mal nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 11. März 2009


Quadratur des Kreises

Von Olaf Standke **

Während gestern in der südafghanischen Taliban-Hochburg Helmand mindestens vier Zivilisten bei einem Bombenanschlag ums Leben kamen, bekräftigte USA-Vizepräsident Biden im Brüsseler NATO-Hauptquartier die Washingtoner Offenheit für Gespräche mit »gemäßigten« Islamisten -- und rief die Bündnispartner zugleich zum verstärkten Kampf gegen die Taliban auf. In diesem Spannungsdreieck bewegt sich die noch nicht ausgefeilte neue Afghanistan-Strategie Washingtons. Sie hat etwas von der Quadratur des Kreises -- wenn man sich vor Augen hält, dass Präsident Obama die militärische Option für gescheitert und den Krieg nicht mehr für gewinnbar hält, zugleich aber die US-amerikanischen Truppen am Hindukusch erheblich aufstockt und selbiges auch von den anderen NATO-Staaten erwartet. Diese Rechnung wird schwerlich aufgehen, am wenigsten für die Zivilisten, die im Vorjahr mehr Todesopfer zu beklagen hatten als in allen Kriegsjahren zuvor. Denn statt einer massiven Ankurbelung des Wiederaufbaus und Stärkung der Zivilgesellschaft droht trotz der verkündeten Dialogbereitschaft mit schwer auszumachenden moderaten Taliban eine Kriegsausweitung. Es wirkte gestern schon reichlich hilflos und weltfremd, als Bundesverteidigungsminister Jung an die islamistischen Extremisten appellierte, »der Gewalt abzuschwören«. Dass die Situation in Afghanistan dann doch etwas »komplexer« ist, das hat auch Obama seinem jüngsten Vorschlag hinzugefügt.

** Aus: Neues Deutschland, 11. März 2009 (Kommentar)


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