Für eine Wende zum Zivilen und zum Rückzug aus dem Besatzungskrieg
Ein Afghanistan-Appell von Wilhelm Nolte *
Weder Angriffskrieg, noch Verteidigungskrieg – gerät das UN-/NATO-Afghanistan-Mandat
(ISAF) für Deutschland zum Besatzungskrieg. Militärisch martialisch uniformiert, repräsentieren
die Soldaten der Bundeswehr in Stadt und Land Nordafghanistans weniger die friedens-,
nämlich zivilpolitischen Interessen der deutschen Gesellschaft, als vielmehr die parlamentarisch
getragenen Interessen sowohl bündnis- und machtpolitischer Teilhabe an eigener
Herrschaft im geostrategisch hoch bedeutsamen zentralasiatischen Raum wie zudem
gesellschaftspolitischer Gängelung einer in über dreißig Jahren Putsche, Kriege, Warlordkämpfe
und Fundamentalismen geschundenen Bevölkerung. Diese kann die bewaffnet auftretenden
Soldaten immer weniger als Instrumente zu Ausgleich und Aussöhnung zwischen
den innerafghanischen, vielfach gewalthaft konfligierenden Kräften und Mächten verstehen.
Je mehr Soldaten die Bundesrepublik nach Afghanistan schickt, um so weniger wird
Deutschland seine zivilisatorischen, einen Friedensprozess fördernden Intentionen signalisieren,
geschweige denn glaubhaft vermitteln können.
Soldaten werden in aller Welt zu allererst und zu Recht als Kriegsakteure wahrgenommen,
zumal in Gesellschaften, die, wie in Afghanistan, nicht nur ihr – resp. maskulines – Selbstverständnis
im mannhaften Kämpfen und Opfern ihrer selbst fundieren, sondern aus ihm
heraus sich in vielfältigen Fraktionen (oft geografisch regionalgebunden) bewaffnet und gerüstet
halten – gegen jedwede Fremdherrschaft. Dabei gelten hier schon „einheimische“ Ethnien,
die – mehr ineinander zersiedelt als voneinander separiert – über das Land verstreut
leben, als Gefährdungen eigener Herrschaftsräume und als unliebsame Konfliktgegner.
Fremde sind geografie- und kulturgegeben zum einen die jeweils gegnerischen Fraktionen
des eigenen Landes (Warlordism), aber darüber hinaus die ins Land verbrachten Soldaten
ausländischer Interventionsmächte.
Am Hindukusch, für die deutschen Truppenteile genauer: am Nordabfall des bis über
7.500 m hohen Hindukusch-Gebirges, nördlich des zu sowjetischen Besatzungszeiten heiß
umkämpften Salang-Tunnels/-Passes, zwischen dem vielfach über 5.000 m hohen, bis auf
über 6.900 m aufsteigenden Pamirplateau im Osten und den auf über 1.000 m über NN gelegenen
Wüsten im Westen der Gebirgsflussoase Mazar-i-Sharif, südlich des Grenzstromes
Amu Darya, am Hindukusch also, um einem deutschen Verteidigungsminister zu widersprechen,
verteidigen die deutschen Soldaten zwar „tapfer“, aber nicht „Recht und Freiheit des
deutschen Volkes“ (Soldateneid), sondern parteiliche, innen-, wehr-, bündnis-, medien-, humanpolitische
und seit der neuen Regierungsbildung auch koalitionspolitische Kalküle und
Argumentationsräume deutscher Parlamentarier/innen.
Mit der Bundestagswahl dieses Sommers hat sich diese Klientel merklich verjüngt, sie kann
viel Ballast unguter zurückliegender Entscheidungen abwerfen und lähmende Verklemmungen
hinter sich lassen. Sie kann – und muss! – mit ihrem im Parlament bald anstehenden
Entschluss über eine Aufstockung der Truppenkontingente in Afghanistan, wie sie der Befehlshaber
der NATO-Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal (FAZ, 28.9.2009,
S. 6) und der deutsche Kommandeur des Afghanistan-Kontingents, General Jörg Vollmer
(Financial Times Deutschland, 23.9.2009) einfordern, die Wende zum Abbau von Besatzungsmacht einleiten: durch die Wende zum Aufbau von ziviler Förderung afghanischeigengesellschaftlicher,
friedensdienlicher Entwicklung. Selbst der deutsche General sieht
gerade hierin erhebliche Mängel und hat beispielsweise um „finanzielle Mittel für die Einstellung
und Bezahlung von 2.500 Polizisten für die Region Kundus gebeten“ (Die Bundeswehr,
Okt. 2009, S. 7).
Eine weitere Aufstockung der Truppenkontingente ist in vieler Hinsicht der falsche Weg. Er
folgt den für einen Besatzungskrieg (etwa: Niederhalten von Aufständischen) offensichtlichen
Erfordernissen von mehr militärischer Kampfkraft im Lande – und vernachlässigt so den Primat
von Politik. Ihre Träger/innen mögen einsehen, dass – etwa die Bundeswehr – im
Kriegsgebiet „ihrer“ Provinzen in der Nordregion Afghanistans unverhältnismäßig viel schwächer
ist als im eigenen Friedensgebiet Bundesrepublik. In den Provinzen Baghlan, Balkh,
Kunduz und Takhar hält sie vergleichsweise, auf den Quadratkilometer gerechnet, über 100
mal weniger Soldaten einsetzbar als im eigenen Land und bei einer mehr als zweifach geringeren
Einwohnerdichte in diesen Provinzen (über sechsfach geringeren Einwohnerdichte in
Gesamtafghanistan) hält sie mehr als dreimal weniger Soldaten pro – doch wohl zu schützenden!
– Einwohnern vor. Gewiss: Da gibt es auch noch afghanische Einheiten, doch deren
Ausbildung (!) kann noch nicht als abgeschlossen gelten (vgl. Die ZEIT online, 4.9.2009).
Insofern ist die Klage der Truppenführer über zu geringe Kräfte militärisch schlüssig: Einen
Besatzerkrieg können sie nicht gewinnen, schon gar nicht gegen fanatisch fundamentalistische
Kräfte (Taliban).
Eine schlüssige Politik muss die Forderung nach mehr Soldaten als Eingeständnis der Truppenführer
lesen: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Eine schlüssige Politik, die sich – rückständig
genug! – des Instrumentes Krieg bedient, sollte dem militärischen Eingeständnis die politische
Forderung folgen lassen, Strategien für den Rückzug zu entwickeln, sie sollte – politisch
im Primat – den Militärführern die Ausplanung und die Einleitung des Rückzugs auferlegen.
Wer stattdessen der Truppenaufstockung das Wort redet, zieht die UN als die Erstmandatierende
immer tiefer in den Krieg hinein, statt sie immer entschiedener zu befähigen,
den Friedensprozess voranzutreiben. Wer die UN-Instrumente des Peace-keeping stärken
will, darf sie nicht militärisch zermahlen.
Keine Zivilisation der Welt, welcher kulturellen Prägung auch immer, kann Terror wünschen,
jede wird Terror bekämpfen: zivilisatorisch politisch. Wer aber Kampf gegen Terror zum
Krieg „hochlobt“, militärisch, und als Besatzungskrieg exerziert, wird niemals politisch obsiegen,
wo er schon militärisch nur scheitern kann.
Vor diesem Hintergrund ist in der Konsequenz vordringlich, dass der erneuerte deutsche
Bundestag – im politischen Primat – den zivilisatorischen Friedensprozess in
Afghanistan voranbringt, gegen eine Truppenaufstockung stimmt und sich im Weiteren
für die Beendigung des UN-/NATO-Mandates und die Auflösung der ISAF einsetzt.
Hamburg, 3. Nov. 2009
* draft - fachlektorat frieden
Zurück zur Afghanistan-Seite
Zur Sonderseite "Truppen raus aus Afghanistan"
Zurück zur Homepage