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Was kommt nach Afghanistan? NATO denkt nach, über ihre künftige Rolle

Ein Beitrag von Kai Küstner in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Ende nächsten Jahres geht die von der NATO geführte ISAF-Mission in Afghanistan zu Ende. Dieser Kampfeinsatz hat das Bündnis nachhaltig geprägt. Die Allianz muss sich nun wieder neu orientieren, ähnlich wie nach Ende des Kalten Krieges. Zumal auch die Führungsmacht USA, sich stärker auf den pazifischen Raum konzentriert. Wie sollte sich die NATO also künftig aufstellen? Dazu gibt es verschiedene Vorstellungen. Kai Küstner weiß mehr:


Manuskript Kai Küstner

Nein, der Begriff Selbst-Findungs-Phase gefalle ihm nicht so sehr, widerspricht der deutsche General Hans-Lothar Domröse - gefragt nach einer Zustands-Beschreibung der NATO. Vermutlich klingt ihm das ein bisschen zu sehr nach Untätigkeit, nach Irrlichtern, nach meditativer Sinnsuche. Aber ...

O-Ton Domröse:
„Wir wechseln glücklicherweise den Schwerpunkt. Wir gehen raus aus Afghanistan mit der ISAF-Mission Ende nächsten Jahres. Wir haben in Afghanistan zu Spitzenzeiten über 100.000 Mann gehabt aus 50 Nationen. Die haben jeden Tag zusammen gestanden. Und wir verlieren die Fähigkeit zum gemeinsamen Üben, etwas gemeinsam zu erreichen.“

Seit etwa 20 Jahren, angefangen in Bosnien, führt die NATO im Grunde ununterbrochen Krieg. Passieren keine unangenehmen Überraschungen, geht diese Phase großer Einsätze mit dem scheibchenweisen Abzug der Kampf-Truppen aus Afghanistan nun langsam aber sicher zu Ende. Was nicht heißt, dass der Erdball damit befriedet wäre:

O-Ton Domröse:
„Wir können selbst jeden Abend die Tagesschau sehen und sehen, dass wir nicht in einer friedliebenden Welt leben. Die Politiker müssen die richtigen Entschlüsse treffen und entscheiden, wo wollen sie die NATO in Zukunft einsetzen und wo nicht.“

Hans-Lothar Domröse ist NATO-Befehlshaber des sogenannten „Allied Joint Force Command“ im niederländischen Brunssum. Und als solcher in den letzten Wochen damit beschäftigt gewesen, eine gigantische NATO-Übung zu planen. Die größte seit 2006, die in diesen Tagen mit rund 6000 Mann in Lettland und Polen stattfindet.

O-Ton Breedlove (overvoice):
„Während wir dabei sind, ISAF - die Mission der Afghanistan-Schutz-Truppe - herunterzufahren, ist es an uns, neue Arten von Training zu entwickeln, die sicherstellen, dass wir in höchster Alarmbereitschaft bleiben. Nehmen Sie einen Fußball-Spieler: wenn Sie verhindern, dass der trainiert, verringern sich dessen Fähigkeiten mit der Zeit.“

Erklärt US-General Philip Breedlove, Oberbefehlshaber aller NATO-Einsätze und damit auch General Domröses Chef. Und so spielen nun also 22 NATO-Nationen Krieg – anstatt Taliban oder Al Qaida zu jagen in einem Land, das weit jenseits der Bündnis-Grenzen liegt, wird hier die Situation durchgespielt, dass der Feind das NATO-Territorium selbst angreift. Nah dran also. Aber fiktiv natürlich. (...)

Der belgische Militär-Experte Olivier Jehin wundert sich nicht darüber, dass die NATO statt eines Anti-Terror-Einsatzes nun wieder die klassische Art der Verteidigung trainiert. Einsatzmüde sei der Westen und dazu noch knapp bei Kasse:

O-Ton Jehin:
„Deswegen kann man nicht mehr denken, dass in den nächsten Jahren die NATO nach Afghanistan oder Pakistan fliegt für einen neuen Einsatz.“

Und so sieht Jehin, Chefredakteur eines Newsletters zu Sicherheits-Fragen, die Zukunft der NATO auch eher in der Vergangenheit: sie werde sich wappnen für den Fall, dass ein Mitglieds-Staat angegriffen werde. Nicht ohne Brisanz: Die Groß-Übung findet sozusagen vor der russischen Haustür statt. In Lettland und Polen.

O-Ton Jehin:
„Zufall ist das nicht. Die Länder Mittel- oder Osteuropas brauchen weiter die Zusicherung, dass die NATO oder die EU sie unterstützen werden. Das ist ein politisches Signal für die Leute dort.“

Angesichts dessen hatten - die Übung betreffend - die Generäle Domröse und Breedlove auch mehr als ein Mal die Frage zu beantworten, ob hier das Zurückschlagen einer russische Invasion geprobt werde:

O-Ton Domröse:
„Wir verschweigen nix. Es ist ein offenes Headquarter: Medien sind eingeladen, verschiedene Gäste sind eingeladen und selbstverständlich russische Vertreter. Also: Es herrscht völlige Transparenz und richtet sich nicht gegen Russland. Sondern gegen jeden, der irgendwie auf die Idee kommt, die NATO anzugreifen.“

Was das Bündnis mit dem Mega-Drill erreichen will, erklärt der deutsche NATO-General im Interview mit dem NDR/WDR-Studio Brüssel, ist: seine sogenannte Eingreiftruppe, die NATO Response Force, auf Trab zu halten. Eine Art Feuerwehreinheit. Die bislang eher bei Naturkatastrophen zum Einsatz kam. Beim Hurricane Katrina in den USA, beim Erdbeben in Pakistan 2005/2006. Oder auch bei der Sicherung der Olympischen Spiele in Athen:

O-Ton Domröse:
„Es ist so eine Art Abiturtest wie bei einem Schüler – hat der nun alles geschafft, deshalb kriegt der das Abitur. Das heißt, es muss nachgewiesen werden, dass mein Hauptquartier - und ich kann mich da nicht ausschließen – dass ich in der Lage sind, ein komplexes, aber fiktives, Kriegsszenario durchzuspielen und zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen.“

Während sich die NATO also fit machen will für zukünftige Aufgaben, wäre es aus Sicht vieler eigentlich angebracht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Und sich die Frage zu stellen: was ist in Afghanistan eigentlich schief gelaufen. Und welche Erkenntnisse lassen sich daraus für die Zukunft gewinnen. Bundes-Verteidigungsminister de Maizière gestand am Rande des Treffens mit seinen NATO-Minister-Kollegen in Brüssel unlängst ein:

O-Ton de Maizière:
„Ich will nicht drumrumreden – die Sicherheitslage ist nicht so gut, wie wir sie uns in diesem Jahr erhofft haben.“

Rund 100 afghanische Polizisten und Soldaten sterben derzeit pro Woche im Einsatz. Viel für ein Land, das man eigentlich befrieden wollte. Militärs verweisen hingegen gerne auf die Erfolge in Afghanistan: Schulen, Straßen, Krankenhäuser.

O-Ton Domröse:
„Wir haben über 17 Millionen Handys im Land. Bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen. Mit anderen Worten: in jeder Familie sind mindestens zwei, drei Handys vorhanden – wie bei uns im Westen Die Menschen haben auch ein festes Netz. Das heißt, Bibi Gul – das tüchtige Mädchen aus der Oberstufe in Kabul - wird immer ihre Freundin anrufen und sich ihre Meinung bilden. Ich glaube: Erziehung, Bildung, Kommunikation – da entwickelt sich etwas positiv. Aber vielleicht waren wir zum Anfang auch ein wenig naiv. Indem wir dachten: dieses zentral-asiatische Land, da werden ruckzuck – ich darf mal den Alt-Bundeskanzler zitieren - blühende Landschaften entstehen. Wenn wir diese Erwartung geweckt haben, dann war das falsch.“

Die Frage nun ist: wird die NATO aus diesem Einsatz mit einem solchen Image-Schaden zurückkehren, dass dies doch schwere Nachwirkungen haben wird. Das dürfte davon abhängen, wie die Lage in Afghanistan in 12 oder 24 Monaten tatsächlich ist. Vorhersagen lässt sich das nicht.

O-Ton Jehin:
„Wenn man einen Einsatz wie in Afghanistan leistet, hat man viel mehr Chancen dort herauszukommen, ohne 100%ig sein Ziel zu erreichen.“

Eins hat Afghanistan, im Zusammenspiel mit anderen Einsätzen, jedenfalls bewirkt: in Europa und den USA herrscht heute eine „Nicht nochmal“-Stimmung vor. Und das gilt nicht nur für das britische Parlament. Hinzu kommt die Finanz-Krise. Nun muss die NATO also beweisen, dass sie erstens noch gebraucht wird, zweitens sparen und drittens gleichzeitig einsatzbereit bleiben kann. Gar nicht einfach. Vielleicht ist sie also doch angebrochen – eine Phase der Selbstfindung.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 2. November 2013; www.ndr.de/info


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