Die Bundeswehr in Afghanistan: Bündnissolidarität statt Wiederaufbau?
Von Berthold Meyer *
Schon im Sommer 2006 wurde von einigen NATO-Partnern Kritik an der Beschränkung des
Bundeswehrkontingentes der „International Security Assistance Force“ (ISAF) in Afghanistan
auf den vergleichsweise ruhigen Norden laut. Während Länder, die wie Kanada ihre Kräfte im
Süden konzentriert haben, immer häufiger über Opfer bei Kämpfen mit den wieder erstarkten
Taliban zu klagen hatten, gab es bisher im Norden nur wenige Anschläge auf Einrichtungen
und Fahrzeuge der Bundeswehr, die meist glimpflich ausgingen. Zwar wurden Vorwürfe, die
Bundeswehr drücke sich vor gefährlichen Aufgaben, offiziell dementiert. Trotzdem ließ sich
der Eindruck nicht mehr beschönigen, dass nach Auffassung einiger Verbündeter noch nicht
genügend Deutsche in Afghanistan gefallen seien. Seither steht die Bundesregierung vor dem
Problem, ob sie um der Bündnissolidarität willen ihr bisheriges Konzept der Hilfe für
Afghanistan gefährden soll. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung, ob deutsche
Tornado-Flugzeuge zur Aufklärung im Süden eingesetzt werden sollen, von erheblicher
Tragweite.
Galt bisher der Satz des ehemaligen Verteidigungsministers Struck, Deutschlands Sicherheit
werde auch am Hindukusch verteidigt, eher als eine propagandistische Überdehnung des
Verteidigungsbegriffs, so könnte bei einer positiven Entscheidung über den Tornado-Einsatz
bald gelten: Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch gefährdet.
Warum „steht“ die Bundeswehr seit 2002 in Afghanistan? Im Oktober/November 2001
begannen die USA mit einer Allianz williger Nationen die Operation Enduring Freedom
(OEF), deren Ziel es war, als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September
Ausbildungs- und Rückzugslager von Al Qaida in Afghanistan zu zerstören und das ihr
Unterschlupf gewährende Taliban-Regime zu beseitigen. Hieran beteiligte sich Deutschland
erst relativ spät und – von etwa 100 Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) abgesehen
– vor allem mit Schiffen am Horn von Afrika.
Demgegenüber engagierten sich die Deutschen bei der Internationalen
Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF) zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner
Umgebung von vorn herein und zeitweilig an führender Stelle. Die Truppe geht auf einen
Beschluss der von der Bundesregierung auf dem Petersberg bei Bonn veranstalteten
Afghanistankonferenz (27. November bis 5. Dezember 2001) zurück. Sie erhielt ihre
völkerrechtliche Legitimation am 20. Dezember 2001 vom UN-Sicherheitsrat. Dass sich die
Bundeswehr so stark an ISAF beteiligt, hat mindestens drei Gründe: Erstens sah sich die
Bundesregierung als Gastgeber der Petersberg-Konferenz in der Pflicht, als Vorbild zu
wirken, zweitens entsprach es der von der rot-grünen Regierung demonstrierten Grundhaltung
eher, die Bundeswehr an von der UNO legitimierten humanitären Einsätzen als an einem in
der Koalition umstrittenen offensiven Antiterrorkampf zu beteiligen, und drittens wurde man
damit auch den Erwartungen der Afghanen gerecht, die gern auf das traditionell gute
Verhältnis zwischen Deutschland und dem geschundenen Land am Hindukusch verwiesen.
Ende 2002 wuchs das deutsche Kontingent von ursprünglich 1200 auf 2.250 Soldaten an; von
Februar bis August 2003 stand ISAF unter deutsch-niederländischer Führung. Danach ging
das Kommando auf die NATO über, blieb aber strikt von der US-geführten OEF getrennt.
Noch im selben Jahr wurde der deutsche Einsatzbereich auf die Bildung eines Provincial
Reconstruction Teams (PRT) zur Unterstützung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen
Wiederaufbauprozesses in Kunduz im Norden des Landes erweitert. Wenig später kam die
Schaffung eines weiteren PRT in Feyzabad im Nordosten hinzu. Seit Mitte 2005 trägt
Deutschland die Verantwortung für die Koordinierung des Wiederaufbaus im gesamten
Norden.
Am 25. September 2005 beschloss der Bundestag, die Personalobergrenze auf 3000 Soldaten
anzuheben. Dies entsprach der Überlegung, die Sicherheit der PRTs, für welche die
Bundeswehr verantwortlich zeichnet, zu vergrößern, denn in den knapp vier Jahren der
Anwesenheit von ISAF hatte die Stabilität Afghanistans trotz der für die Regierung Karzai
erfolgreich verlaufenen Wahlen nicht zugenommen. Im Gegenteil: Die parallel zur ISAF vor
allem im Süden und an der pakistanischen Grenze weiterhin gegen Al Qaida und Taliban
kämpfende OEF-Truppe wurde in einigen Gebieten zurückgedrängt. Nach Angaben der
Bundesregierung gab es Mitte 2006 in Afghanistan bis zu 1.800 illegale Milizgruppen mit bis
zu 130.000 Angehörigen, von denen nur ein Drittel als nicht sehr gefährlich eingestuft wurde.
Die verschlechterte Lage führte zu einer Diskussion in der NATO, den Einsatz von ISAF auf
ganz Afghanistan auszudehnen und die Führung mit der von OEF so zu verbinden, dass eine
höhere Effizienz erreicht werden könnte. Zwar blieb ISAF auf Drängen einiger europäischer
Staaten, insbesondere der Bundesregierung, formal von OEF getrennt. Doch wurden beide
Einsätze unter einem gemeinsamen britischen Oberkommando miteinander verknüpft. Was
militärisch plausibel erscheint, erschwert es den Afghanen zwischen „guten“ und „bösen“
ausländischen Soldaten zu unterscheiden. Schon jetzt werden in zunehmendem Maße auch
Einheiten der ISAF von Taliban angegriffen. So wurde sie im September 2006 erstmals bei
Kandahar in größere Kampfhandlungen verwickelt, wobei etwa 1.000 Aufständische ums
Leben kamen.
ISAF war im Frühjahr 2006 auf 16.000 Soldaten aufgestockt und mit einem „robusten“
Mandat ausgestattet worden, das eine bewaffnete Selbstverteidigung erlaubt. Am 8. Juni 2006
beschloss die NATO eine weitere Aufstockung bis Ende 2006 auf 25.000 Soldaten sowie die
Ausdehnung auf den ganzen Süden und Osten des Landes. Kurz zuvor hatte das deutsche
Kontingent seinen Schwerpunkt von Kabul nach Mazar-E Sharif verlegt.
Bei der Verlängerung des Mandates hatte der Bundestag außerdem auch einem zeitlich und
personell begrenzten Einsatz in anderen Landesteilen zugestimmt. Das genügte einigen
Verbündeten jedoch nicht: Im Vorfeld des NATO-Gipfels von Riga Ende November 2006
forderten sie, Deutschland solle mehr Soldaten in den unruhigen Süden senden. Das lehnt die
Bundesregierung jedoch außer für Notfälle ab und begründet es damit, dass sonst die unter
maßgeblicher deutscher Beteiligung relativ stabil gehaltene Lage im Norden gefährdet würde.
Trotzdem kam es Anfang Januar 2007 zu einer Anfrage der NATO, sechs Tornado-
Aufklärungsflugzeuge im Süden Afghanistans einzusetzen. Dies schien führenden
Sicherheitspolitikern wie dem ehemaligen SPD-Verteidigungsminister Struck
unproblematisch, ja sogar zunächst ohne ein neues Mandat des Bundestages möglich. Doch
die drei Oppositionsparteien FDP, Bündnis 90/Grüne und Linke machten am 19. Januar im
Plenum des Bundestages deutlich, dass sie das anders sehen.
In der Tat würde eine Ausweitung des Mandates auf den Einsatz von Aufklärungsflugzeugen
die bisherige wenigstens noch für das deutsche Kontingent geltende Trennung zwischen der
auf den Wiederaufbau gerichteten ISAF und den Antiterror-Kampftruppen der OEF völlig
verwischen. Es ist klar, dass die Luftaufnahmen der deutschen Tornados unmittelbar dazu
dienen würden, Einsätze gegen Ortschaften, in denen sich Aufständische aufhalten, leichter
führen zu können. Das mag zwar in dem einen oder anderen Fall bedeuten, dass durch
präzisere Angriffe weniger unbeteiligte Zivilpersonen zu Schaden kommen. Da jedoch alle
Aufständischen in der typischen Landestracht und nicht in Uniformen herumlaufen, wäre eine
Unterscheidung zwischen ihnen und Unbeteiligten in den meisten Fällen unmöglich. Wenn
aber aufgrund von Zieldaten, die von deutschen Flugzeugen geliefert würden, Unbeteiligte zu
Tode kämen, würde sich das in ganz Afghanistan wie ein Lauffeuer verbreiten und der gute
Ruf, den die Deutschen generell und die Bundeswehrsoldaten bisher noch genießen, wäre
dahin. Dies kann und darf weder der Bundestag noch die Bundesregierung verantworten.
Bündnissolidarität darf nicht dazu führen, die bisherige Wiederaufbauhilfe der Bundeswehr zu
konterkarieren.
* Prof. Dr. Berthold Meyer, Projektleiter in der Forschungsgruppe Rüstungskontrolle und
Abrüstung bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (www.hsfk.de).
Dieser Beitrag erscheint in "pax zeit" Nr. 1-2007 (die Zeitschrift von Pax Christi erscheint im März 2007). Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Zurück zur Afghanistan-Seite
Zur Bundeswehr-Seite
Zurück zur Homepage