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Ausweitung der Kampfzone

Afghanistan: Die NATO steigt immer mehr in den Krieg ein

Von Knut Mellenthin*

Seit über vier Jahren muß Deutschlands Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werden. Der Entdecker dieser Notwendigkeit war der frühere Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Er hatte keine erkennbaren Schwierigkeiten, fast den gesamten Bundestag und 99,9 Prozent der deutschen Journalisten von seiner These zu überzeugen. Die »rot-grünen« Regierungsjahre haben wie eine Dampfwalze fast alles platt gemacht, was vor 15 Jahren selbst von christdemokratischen Politikern noch an Einwänden gegen internationale Bundeswehreinsätze zu vernehmen war. Daß deutsche Soldaten an die entlegensten Plätze der Welt »entsandt« werden, ist alltäglich geworden.

Am 28. September vorigen Jahres hatte der Bundestag den alljährlichen Antrag zur »Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan« abzunicken. 535 Abgeordnete stimmten mit Ja, nur 14 votierten dagegen; außerdem gab es vier Enthaltungen. Neben den damals nur zwei PDS-Abgeordneten, Gesine Lötzsch und Petra Pau, hatten unter anderem auch drei Vertreter der CDU/CSU, fünf von der FDP und genau ein SPD-Mann gegen den Antrag gestimmt. Aus der Fraktion der Grünen, die vor Jahren unter dem Motto »Gewaltfrei« angetreten waren, hatten sich nur zwei Abgeordnete zu einem Nein durchgerungen: Winfried Hermann und Hans-Christian Ströbele. Die vierzehnte Gegenstimme kam von dem fraktionslosen Abgeordneten Martin Hohmann, ehemals CDU.

Der Bundestag hatte am 28. September 2005 nicht nur über eine routinemäßige Verlängerung der Stationierung um ein weiteres Jahr abzustimmen, sondern auch über eine Erhöhung der Truppenstärke von 2200 auf bis zu 3000 Bundeswehrsoldaten und eine entscheidende Ausweitung ihres Auftrags: Sie können jetzt ohne räumliche Beschränkung ausnahmslos überall in Afghanistan eingesetzt werden. Nicht nur im ruhigen Norden, sondern auch in den südöstlichen Provinzen, wo es fast täglich Kämpfe mit Aufständischen gibt. Und, zwangsläufig damit verbunden: Deutschland beteiligt sich an der schleichenden Änderung des Mandats der ISAF (International Security Assistance Force): weg vom bloßen »Peacekeeping«, hin zu »robusten« Kampfeinsätzen.

Die ISAF-Mission verschmilzt dadurch noch stärker mit dem auf mehrere Jahrzehnte angelegten strategischen »Weltkrieg« der USA gegen die moslemischen Staaten. Daß Nordamerika und Europa von immer mehr Moslems als aggressive Tätergemeinschaft wahrgenommen werden, wie sich zuletzt bei den Demonstrationen gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen zeigte, entspricht zum einen der politischen Wirklichkeit. Es entspricht aber auch der Absicht der führenden »Weltkriegs«-Strategen: Sie wollen die jetzt noch schwankenden europäischen Verbündeten endgültig auf ihren Kurs zwingen. Damit sollen den unsicheren Kantonisten zugleich auch die Möglichkeiten opportunistischer Sonderwege abgeschnitten werden. Praktisch beim Krieg mithelfen, aber sich verbal raushalten oder sogar ein bißchen rumstänkern, wie es Deutschland unter Schröder/Fischer betrieben hat, soll künftig nicht mehr möglich sein.

Wie meist fing alles scheinbar ganz harmlos an. Nach der Besetzung Afghanistans durch US-amerikanische Streitkräfte beschloß der UNO-Sicherheitsrat am 20. Dezember 2001 »die Einrichtung einer internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF) für einen Zeitraum von sechs Monaten, um die afghanische Interimsbehörde bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung zu unterstützen«.

Am 22. Dezember 2001 stimmte der Bundestag der Beteiligung Deutschlands an der ISAF zu. Die Bundeswehr stellte von Anfang an das stärkste Kontingent. (Demnächst wird es Großbritannien sein.) Von anfänglich etwa 5000 Soldaten wuchs ISAF auf 9000, und die Zahl der beteiligten Staaten nahm zu.

Getrennt von ISAF agieren in Afghanistan die Streitkräfte der Operation Enduring Freedom (OEF): ungefähr 16000 Amerikaner und 2000 weitere Soldaten, mehrheitlich Kanadier. Die Bundeswehr beteiligt sich an OEF mit etwa 100 Mann des Kommandos Spezialkräfte (KSK). Was sie dort tun, unterliegt strikter Geheimhaltung, angeblich zu ihrem Schutz, tatsächlich aber offenbar, weil einige ihrer Aktivitäten nicht vorzeigbar sind.

Derzeit leisten alle 26 NATO-Mitglieder und zehn weitere Länder in irgendeiner Form einen militärischen Beitrag zur ISAF. »Nicht siegen ist wichtig, sondern dabeisein«, lautet die von Olympia entlehnte Devise. Auch Kleinstbeiträge wie die Österreichs (drei Offiziere), der Schweiz (ein Militärarzt und drei Offiziere) oder Polens (fünf Offiziere) fallen ins Gewicht. Von 26 NATO-Staaten stellten bis vor kurzem nur 13 Kontingente, die mehr als 100 Militärpersonen umfaßten. Gefragt ist nicht militärische Effektivität, sondern das Propagandabild der Geschlossenheit des Bündnisses. Daneben sollte auch der Übungswert der über Jahre dauernden Koordination von Militärs aus so vielen Ländern nicht unterschätzt werden.

ISAF hat zwar ein alljährlich erneuertes Mandat des UNO-Sicherheitsrats, ist aber keine UNO-Blauhelmtruppe. Seit August 2003 untersteht ISAF offiziell der NATO. Dadurch wurde Afghanistan zum ersten Einsatzplatz der NATO außerhalb ihres Bündnisgebietes. Rußland und China hatten anscheinend keine Probleme, auch unter dieser geänderten Voraussetzung in den Jahren 2003, 2004 und 2005 nicht nur der Verlängerung des ISAF-Mandats, sondern auch alle drei Male einer Ausweitung des Einsatzgebiets zuzustimmen.

Am 13. Oktober 2003 beschloß der UNO-Sicherheitsrat erstmalig die Ausdehnung des bisher auf Kabul »und Umgebung« beschränkten Mandatsgebiets. Zunächst betraf das praktisch nur die Bundeswehr, die in der nördlichen Provinz Kundus ein sogenanntes Provincial Reconstruction Team (PRT) aufbauen sollte. Zu diesem Zweck sollten aus Kabul bis zu 450 deutsche Soldaten abgezogen werden können. Der Bundestag erteilte am 24. Oktober 2003 seine Zustimmung.

Ihrem Auftrag nach sollen die PRTs militärische Sicherungsaufgaben mit der »Unterstützung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wiederaufbauprozesses« verbinden. Deshalb gehören jedem PRT neben ungefähr 300 bis 400 Soldaten auch einige Verwaltungsbeamte, Polizisten, Techniker und andere Zivilpersonen an. Die US-Streitkräfte hatten zuvor schon mehrere PRTs aufgebaut. Kundus war die erste Provinz, die von den Amerikanern an ein anderes NATO-Land übergeben wurde. Ab Juli 2004 baute die Bundeswehr in Feysabad ein zweites PRT auf, das für die nordöstlichste Provinz, Badachschan, zuständig ist.

»Sicheres Umfeld«

Die Bundesregierung hatte sich damit bei der voraussehbaren Aufteilung des Landes in die Zuständigkeit einzelner ISAF-Teilnehmer von vornherein den bequemsten, ungefährlichsten Part gesichert. Auch das wieder ganz in der »rot-grünen« Tradition. Der Nordosten stand bis zum US-amerikanischen Überfall im Oktober 2001 auf Afghanistan unter Kontrolle der Nordallianz, zu der USA und EU schon vorher enge Beziehungen unterhielten. Die Taliban hatten hier nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Aufstandstätigkeit scheint es in dieser Region bis heute nicht zu geben, auch wenn es in der Provinz Kundus vor zwei Wochen einen Anschlag auf eine deutsche Patrouille gab.

Laut offiziellem Auftrag soll ein PRT in seinem Zuständigkeitsbereich »zusammen mit den regionalen Sicherheitskräften und Behörden für ein stabiles und sicheres Umfeld sorgen«. Was dies angeht, sind in jeder Bundestagsdebatte zum Thema wahre Wunderdinge über das segensreiche Wirken unserer tapferen Soldaten zu hören. Zugleich wird in düsteren Farben ausgemalt, was passieren würde, falls die Bundeswehr abzieht: Talibane und Drogenbarone würden die Macht übernehmen. Alles, was an großartigem Fortschritt unter der Schutzherrschaft der ISAF erreicht wurde, würde sofort »zusammenbrechen wie ein Kartenhaus«, wenn die Deutschen gehen. So wörtlich der Grünen-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtweih.

Nachtweih will auch mit eigenen Augen beobachtet haben, »wie ISAF ihre nach militärischen Maßstäben relative Schwäche (90 Soldaten auf den Straßen eines chaotischen 500000-Menschen-Stadtteils von Kabul!) durch kluges Agieren in politische Stärke verwandelt« und für Ruhe und Ordnung sorgt. Wie man aus den Bundestagsprotokollen sehen kann, toben nicht nur in Nachtweihs Kopf Wahnvorstellungen aus der Kolonialzeit, als angeblich eine Handvoll weißer Herrenmenschen kraft ihrer Klugheit und natürlichen Autorität Hunderttausende Eingeborene zur Räson brachte.

Die Wirklichkeit sieht offenbar anders aus. Nehmen wir als Beispiel die Provinz Badachschan, für die seit knapp zwei Jahren ein von der Bundeswehr geführtes PRT zuständig ist. Das Gebiet ist größer als das Bundesland Nordrhein-Westfalen, überwiegend hochgebirgig, verkehrsmäßig kaum erschlossen, hat über eine Million Einwohner. Der Gedanke, dort mit 300 deutschen Soldaten »ein sicheres Umfeld zu schaffen«, ist völlig absurd – entweder größenwahnsinnig oder einfach nur verlogen.

Tatsächlich funktioniert nicht nur die deutsche Präsenz in Kabul und Nordostafghanistan, sondern die gesamte ISAF und darüber hinaus zu weiten Teilen auch das amerikanische Besatzungsregime in erster Linie nach den uralten Prinzipien von »Leben und leben lassen«. Die Drogenbauern und Drogenhändler läßt man ebenso in Ruhe wie die lokalen Warlords, die immer noch große Macht haben, und die rivalisierenden Clans, deren Mitglieder nach wie vor gut bewaffnet sind. Badachschan ist, neben der Provinz Helmand im Süden, das größte Mohnanbaugebiet des Landes. Die Drogenproduktion, die von den Taliban vor der US-Invasion auf ein Minimum eingeschränkt worden war, macht heute fast zwei Drittel des afghanischen Bruttosozialprodukts aus. Afghanistan produziert unter dem NATO-Protektorat fast 90 Prozent des Heroins, das auf den Weltmarkt gelangt.

»Die Bundeswehr sorgt dafür, daß die afghanischen Mädchen jetzt zur Schule gehen können«, trumpfen Bundestagsabgeordnete auf, als handele es sich um ihr ganz persönliches Verdienst. Tatsache ist, daß Hunderte Schulen von Rebellen abgebrannt, viele Lehrerinnen und Lehrer ermordet wurden. Und wie will die Bundeswehr lokale Machthaber zwingen, die einfach tausend Ausreden erfinden, warum in nächster Zeit keine Mädchenschule gebaut werden kann? Offensichtlich handelt es sich jedenfalls nicht um Probleme, zu deren Lösung Soldaten wertvolle Beiträge leisten können.

Vorrücken an die iranische Grenze

Im Februar 2005 beschlossen die NATO-Verteidigungsminister, den ISAF-Einsatz auch auf den Westen Afghanistans auszudehnen. Neben den mittlerweile fünf PRT im Norden wurden im Verlauf des vorigen Jahres vier weitere im Westen gebildet. Führend sind dabei die italienischen Streitkräfte, die ein PRT und ein Hauptquartier in der an den Iran grenzenden Provinz Herat aufbauten. Auch der Westen Afghanistans gilt nach NATO-Maßstäben als »weitgehend ruhig«. In Herat sind inzwischen auch einige Bundeswehrsoldaten stationiert, die dem italienisch geführten PRT unterstehen.

Als problematisch wird allgemein die Stufe drei des Ausweitungsplans, die Übernahme der Südregion durch die ISAF, angesehen. Dort gibt es in mehreren an Pakistan grenzenden paschtunischen Provinzen (Helmand, Kandahar, Zabul) eine starke Aufstandstätigkeit. Die Übergabe an die ISAF sollte nach den ursprünglichen Plänen schon im vorigen Jahr weitgehend abgeschlossen werden, hat aber erst 2006 begonnen. Die Schwierigkeiten lagen zu erheblichen Teilen in den Widersprüchen zwischen den NATO-Staaten begründet. Die US-Regierung würde am liebsten die Zuständigkeit der ISAF (und damit auch der NATO) schnellstens auf das ganze Land ausweiten. Damit würden auch die im Rahmen der Operation Enduring Freedom agierenden US-Streitkräfte (derzeit etwa 16000 Mann) Teil von ISAF. OEF und ISAF würden unter einem gemeinsamen Kommando verschmelzen. Die Folge wäre eine grundlegende Veränderung des Auftrags der ISAF, hin zu Kampfeinsätzen, einschließlich der von den USA praktizierten wahllosen Luftangriffe, um die Bevölkerung von jeder Zusammenarbeit mit Aufständischen abzuschrecken.

Das würde vor allem die verlogene deutsche Taktik, sich gegenüber der afghanischen Bevölkerung und generell gegenüber der moslemischen Welt als die scheinbar »Guten« darzustellen, durchkreuzen. Deutschland hat daher, neben Frankreich, dem Plan der US-Regierung am schärfsten widersprochen. »Da gibt es von uns ein klares Nein«, sagte Struck während der NATO-Beratungen im Dezember vergangenen Jahres. »Das würde die Gefährdungslage für unsere Soldaten verdoppeln und auch das Klima in Afghanistan verschlechtern.«

Gleichzeitig setzte sich der damalige Verteidigungsminister aber für eine »Verstärkung der Synergieeffekte« zwischen ISAF und OEF ein. Alle maßgeblichen deutschen Politiker gehen, wie in den Bundestagsdebatten deutlich wurde, davon aus, daß die ISAF ohne die Rückendeckung der US-Streitkräfte und deren Luftwaffe ihre Mission abbrechen müßte. Deutsche Politiker handeln wie jemand, der zwar die Todesstrafe für sinnvoll hält, aber nicht gern mit dem Henker zusammen gesehen werden möchte. Dabei ist Deutschland seit November 2001 auch an der OEF beteiligt, was das Theater doppelt heuchlerisch macht.

Geeinigt hat man sich nun auf die Aufteilung Afghanistans in fünf Regionen: Der Norden unter deutscher Führung, der Westen unter italienischer, der Süden unter britischer, Kabul und Umgebung unter französischer Verantwortung; im Osten bleiben bis auf weiteres die US-Streitkräfte im Rahmen der OEF zuständig. Die ISAF wird um rund 6000 Soldaten verstärkt, von 9000 auf 15000. Den Hauptteil der zusätzlichen Truppen stellen Großbritannien und die Niederlande. In beiden Ländern gab es monatelangen politischen Streit um den künftigen Auftrag ihrer Soldaten. Weithin wird befürchtet, daß durch den Einsatz von ISAF in Aufstandsgebieten sich auch deren tatsächlicher Auftrag ändern wird. Offiziell wird das bestritten. Aber hier wird zumindest die Macht des Faktischen wohl das Ihre tun. Das würde bedeuten, daß die ISAF-Truppen sowohl ihre »Rules of engagement« (Einsatzvorschriften) als auch ihre Bewaffnung der veränderten Gefahrenlage anpassen müßten. Zumal aufgrund der neuen Beschlußlage jede ISAF-Einheit in jedem Teil Afghanistans eingesetzt werden könnte. Und der amerikanische Plan, noch im Lauf dieses Jahres auch die Ostregion unter die Zuständigkeit der ISAF zu stellen, ist nicht vom Tisch.

Hintergrund ist, daß vor allem im Süden und Osten Afghanistans die Aufstandstätigkeit seit 2005 stark zugenommen hat. Die US-Truppen hatten im vergangenen Jahr 99 Tote zu beklagen, fast doppelt so viele wie 2004 (52). In der ersten Kriegsphase im Herbst/Winter 2001 starben lediglich zwölf US-Soldaten. In den paschtunischen Gebieten nimmt Medienberichten zufolge die Unterstützung der Aufständischen durch Teile der Bevölkerung zu. Die 2430 Kilometer lange Grenze zu Pakistan ist heute schon fast vollständig auf beiden Seiten Kampfgebiet. Ein Übergreifen des Krieges auf Pakistan zeichnet sich ab. Die 936 Kilometer lange Grenze zum Iran wird gleichfalls Kampfgebiet werden, wenn die US-Regierung ihre Kriegspläne wahr macht. Afghanistan droht, Hinterland des US-Krieges gegen Iran zu werden. Die Zeit, in der Deutschland gleichzeitig mitspielen und sich raushalten konnte, geht ihrem Ende entgegen.

* Aus: junge Welt, 22. April 2006


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