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Unbeeindruckt von Fakten

Kundus-Untersuchungsausschuß legt Bericht vor. Zwei Jahre nach von Deutschem befohlenen Bombenangriff sieht Koalition politische und militärische Führung entlastet

Von Jörn Boewe *

Der parlamentarische Untersuchungsbericht zum Bombenangriff bei Kundus liegt vor. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestags hat das 578 Seiten umfassende Dokument am Donnerstag (27. Okt.) nachmittag vorgestellt.

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 hatte ein US-amerikanischer Kampfbomber auf Anforderung des Bundeswehroffiziers Oberst Georg Klein einen Luftangriff auf zwei von afghanischen Aufständischen geraubte Tanklaster geflogen. Durch den Abwurf zweier 500-Pfund-Bomben wurden nach NATO-Angaben bis zu 142 Menschen, größtenteils Zivilisten, darunter auch Kinder, getötet oder verletzt. Die beiden Tanklaster waren auf einer Sandbank des nordafghanischen Kundus-Flusses steckengeblieben. Die Aufständischen hatten daraufhin die Bewohner der umliegenden Dörfer aufgefordert, sich Treibstoff abzuzapfen.

Ende November 2009 verlangte die Opposition (zu der nach den Bundestagswahlen vom 27. September auch die SPD gehörte) die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Mitte Dezember konstituierte sich der Verteidigungsausschuß zu einem solchen. Im Gegensatz zu anderen derartigen Gremien sind dessen Sitzungen (und selbst die Tagesordnungen) geheim.

Mit dem gestern vorgelegten Bericht (BT-Drucksache 17/7400) stellt die Ausschußmehrheit erwartungsgemäß sowohl Oberst Klein als auch der damaligen Bundesregierung ein entlastendes Zeugnis aus. »Unterstellungen«, der Kommandeur Klein habe »den Befehl zum Luftschlag leichtfertig gegeben (…), konnten durch die durchgeführte Beweisaufnahme (…) in vollem Umfang widerlegt werden«. Zudem hätten die Untersuchungen und Zeugenvernehmungen »den Beweis erbracht, daß im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Luft-Boden-Einsatzes am 4.September 2009 in Kundus der Bundesregierung keinerlei Vorwurf gemacht werden kann«. Diese Bewertung mag den geopolitischen Prioritäten der Koalition entsprechen, aber gewiß nicht auf den Fakten, die man in dem Dokument findet.

So geht aus dem Bericht hervor, daß Klein seine Einschätzung, zum Zeitpunkt des Angriffsbefehls hätten sich keine Zivilisten bei den Tanklastern aufgehalten, auf Grundlage der telefonischen Aussage eines einzigen Informanten traf. Erwiesen ist auch, daß die Bundesregierung bei ihrer Information über den Vorfall Details verschwieg, wo es opportun erschien, aber auch Dinge dazuerfand. Jede der drei Oppositionsfraktionen hat deshalb ein eigenes, umfangreiches Sondervotum abgegeben. Diese sind dem Mehrheitsbericht als gesonderte Abschnitte beigefügt.

So schreibt die SPD: »Die Behauptung der Mehrheit, die Entführung der Tanklaster sei von den Aufständischen geplant gewesen, ›um später mit der gewaltigen Sprengkraft zweier voll beladener Tanklastzüge einen Anschlag der schwersten Kategorie durchzuführen‹ ist frei erfunden.« Oberst Klein sei »keineswegs ›aufgrund mehrfacher Nachfragen‹ zu dem Schluß gelangt, daß die Tank­laster ›eine erhebliche Bedrohung (…) darstellen‹«: Tatsächlich habe »weder der Informant noch einer der anwesenden Soldaten« von einer »Bedrohung« gesprochen. Weiter heißt es: »Die Aussage der Piloten der B-1-Bomber, daß sie keine Waffen bei den Personen auf der Sandbank hätten aufklären können, wird sachwidrig ignoriert und das Gegenteil behauptet.« Außerdem sei die Aussage der Koalition, die im Bundeswehrcamp Kundus einsatzbereite LUNA-Aufklärungsdrohne hätte »keine ausreichende Reichweite gehabt«, um sie zur Informationsgewinnung einsetzen zu können, »frei erfunden und sachlich falsch«.

Die Linke weist in ihrem Sondervotum darauf hin, daß Klein »die Unterstützung durch die F-15-Bomber, die letztlich den Luftangriff ausführten, nur deshalb erhalten« hatte, »weil er der Lufteinsatzzentrale – bewußt wahrheitswidrig und nicht in Übereinstimmung mit den geltenden Verfahrensvorschriften – durch seinen Fliegerleitoffizier (Joint Tactical Air Controller, JTAC) Hauptfeldwebel W. eine Gefechtssituation (troops in contact, TIC) melden ließ«. Die Grünen betonen, es gebe »massive Zweifel daran, daß Oberst Klein seine Aufklärungspflichten zur Vermeidung ziviler Opfer hinreichend wahrnahm«. So habe der Kommandeur »bei seiner Aufklärung nicht ausreichend zwischen den Personen, die er angreifen durfte und zwischen zu schützenden Zivilpersonen« differenziert. Angesichts der unklaren Quellenlage hätte er »weitere Erkundigungen einziehen« oder »von einem Luftschlag Abstand nehmen müssen«. Beides, so das Fazit der Grünen, »wäre angesichts der geringen Gefahrensituation zumutbar gewesen«.

* Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


Zu diesem Thema referiert beim Friedenspolitischen Ratschlag 2011 in Kassel Kirsten Janssen aus Berlin:

Das Kunduz-Massaker vor dem Untersuchungsausschuss

18. Friedenspolitischer Ratschlag

26./27. November 2011

an der Universität Kassel
Beginn: Samstag, 26. Nov., 12 Uhr Ende: Sonntag, 27. Nov. 14 Uhr




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