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Abzug vom Hindukusch

Elf Jahre nach der ersten "Petersberg-Konferenz" tagt am Wochenende ein Friedenskongreß in Bonn. Veranstalter fordern Rückzug aller Besatzungstruppen aus Afghanistan

Von Sebastian Carlens *

Vor elf Jahren trafen sich auf dem Petersberg in Königswinter bei Bonn auf Einladung eines UN-Sondergesandten zum ersten Mal Vertreter der »Nordallianz« und verschiedene afghanische Stammesführer, um eine Übergangsregierung für Afghanistan einzusetzen. Als die Konferenz am 5. Dezember 2001 im beschaulichen Siebengebirge zusammentritt, tobt am Hindukusch bereits seit zwei Monaten Krieg – der »war on terror« der NATO-Staaten war nach den Anschlägen des 11. September 2001 entfesselt worden; Afghanistan wurde zum ersten Kriegsschauplatz. Die Taliban-Regierung, die als Terrorunterstützer verantwortlich gemacht wurde, war rasch gestürzt; der in Petersberg eingesetzte Interimsregierungschef Hamid Karsai ist seitdem Präsident des Landes. Doch Intervention und Bürgerkrieg in Afghanistan sind bis heute nicht beendet, und so ist es mehr als ein symbolischer Zufall, wenn sich an diesem Wochenende eine internationale Konferenz unter dem Motto »Stoppt den Krieg – Frieden in Afghanistan« in Bonn trifft, um andere »Wege zum Frieden« als die Petersberger Veranstaltungen zu suchen. Im Gegensatz zu den offiziellen Konferenzen, denen es nicht gelang, alle wichtigen Vertreter der afghanischen Gesellschaft an einen Tisch zu bringen, wird die internationale Afghanistan-Konferenz von zivilgesellschaftlichen Kräften organisiert; Veranstalter ist die »Kooperation für den Frieden«, ein Zusammenschluß von mehr als 50 deutschen Friedensorganisationen, im Bündnis mit 20 afghanischen Exilorganisationen.

Geboren wurde die Idee zu einem alternativen Friedenskongreß während der Proteste gegen die zweite »Petersberg-Konferenz« im Dezember 2011. »Nach mehr als 30 Jahren Krieg im leidgeprüften Afghanistan ist die Voraussetzung für Frieden und einen selbstbestimmten, eigenen, unabhängigen Entwicklungsweg der sofortige, auch einseitige Waffenstillstand und der Abzug aller Interventionstruppen. Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung sind in Afghanistan nur ohne Besetzung durch fremde Truppen und deren Förderung von Warlords und autoritären Strukturen möglich«, hieß es in der Abschlußerklärung des Protestbündnisses gegen »Petersberg II«, das die Ergebnisse der ersten Konferenz nach zehn Jahren überprüfen sollte. Das Treffen der Außenminister sei eine »Kriegsverlängerungskonferenz«, bemängelte das Bündnis damals: »Statt dem Frieden dient sie der Legitimierung der Fortsetzung des Krieges. Der Abzug steht nicht auf Tagesordnung der NATO, die Truppen werden nur verringert. 25000 Kampftruppen sollen bis 2024 an wenigstens fünf Stützpunkten in Afghanistan stationiert bleiben«.

Die Menschen Afghanistans müßten selbständig und ohne Einmischung über ihren Entwicklungsweg entscheiden können, verlangen die Organisatoren der Friedenskonferenz. Das Fazit aus elf Jahren Krieg sei eindeutig: »Die bisherige Politik ist gescheitert«. Ein sofortiger Friede sei die erste und wichtigste Forderung, um das Land wieder aufzubauen und eine Versöhnung seiner Volksgruppen erreichen zu können. Der Westen aber soll sich daran beteiligen: »Wie den für den Krieg verschleuderten Milliarden müssen für den Frieden entsprechende Summen der Interventionsländer zur Verfügung stehen – und das auf Jahrzehnte«.

Mit einem Abzug der Besatzungstruppen allein, aber auch mit westlicher »Entwicklungshilfe« wird dem seit über dreißig Jahren vom Krieg und Bürgerkrieg gebeutelten Land nicht geholfen sein. Erst die Frage nach den Ursachen des westlichen Einmarsches in ein Land, dessen reaktionärste Kräfte seit den späten siebziger Jahren ausgerechnet von denjenigen, die nun zum »Krieg gegen den Terrorismus« aufrufen, systematisch gegen die Sowjetunion hochgerüstet wurden, kann Antworten zur Lösung des Konfliktes bringen. »Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden«, hieß es in der Erklärung des Protestbündnisses gegen »Petersberg II« im Dezember 2011. Die Voraussetzung für eine Beendigung des afghanischen Bürgerkrieges ist das Ende der NATO-Intervention. Dafür zu sorgen, daß die deutschen Truppen das Land verlassen, ist die ureigene Aufgabe der deutschen Kriegsgegner.

Internationaler Afghanistan Friedenskongress 2012, 13. und 14. Oktober 2012, LVR-Landesmuseum Bonn www.afghanistanprotest.de

* Aus: junge Welt, Samstag, 13. Oktober 2012


Zerstrittene Gruppen an einem Tisch

Friedensaktivist Reiner Braun über eine politische Premiere **

Der Historiker Reiner Braun ist Geschäftsführer der Initiative »Internationale Juristen und Juristinnen gegen den Atomkrieg« (IALANA) und gehört zu den Organisatoren der Afghanistan-Friedenskonferenz am 13. und 14. Oktober in Bonn. Mit ihm sprach für »nd« Marcus Meier.


nd: Die ISAF-Mission endet 2014, dann folgt ein Jahrzehnt der Transformation und am Ende steht ein funktionierender demokratischer Staat - die Roadmap der NATO klingt wunderbar. Warum wollen Sie am Wochenende in Bonn überhaupt noch über »Wege zum Frieden für Afghanistan« konferieren?

Braun: Wir haben gerade drei neue Reports auf den Tisch bekommen - einen vom Roten Kreuz in Afghanistan, einen von der International Crisis Group und einen vom Bundesnachrichtendienst. Bei aller Unterschiedlichkeit haben die Berichte eine Botschaft gemeinsam: Die Situation in Afghanistan ist absolut katastrophal und sie wird jeden Tag schlimmer. Diese Situation, die von der offiziellen Politik geleugnet wird, muss erst einmal auf den Tisch - in Teil eins unserer Konferenz wollen wir analytisch feststellen, wo wir stehen. In Teil zwei fragen wir uns, ob es überhaupt Alternativen gibt und wie sie aussehen könnten.

Wer veranstaltet den Kongress?

Die »Kooperation für den Frieden« ist bisher einmalig. Sie besteht aus rund 50 friedensbewegten Organisationen aus Deutschland und rund 25 afghanischen Gruppen. Erstmals werden Afghaninnen und Afghanen aus dem Exil, aber auch aus Afghanistan selbst ihre Überlegungen für einen Weg zum Frieden darlegen. Hinzu kommen Parlamentarier von SPD, Grünen und der LINKEN. Das Bündnis konnte nur zustande kommen, weil es in Deutschland Afghanen gibt, die ihre gesamten Vernetzungsmöglichkeiten mutig genutzt haben. Dem Wissenschaftler Matin Baraki und dem Juristen Karim Popal ist es gelungen, Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, säkulare wie religiöse Afghanen an einen Tisch zu bekommen.

Die NATO hat gerade eine »neue Mission« für die Zeit nach 2014 beraten, die jedoch »kein Kampfeinsatz« sei. Vielmehr wolle man »Training, Rat und Unterstützung« anbieten. Das Militärbündnis als konstruktiver Akteur?

Wohl kaum! Die NATO ist ein Verantwortlicher für das Desaster, sie hat eine komplizierte Lage erheblich verschlimmert. Krieg und Militär können kein Teil der Lösung sein, sie sind ein Teil des riesigen Problems.

Welche Alternativen gibt es?

Meiner Meinung nach muss die afghanische Zivilgesellschaft ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und versuchen, Strukturen und Arbeitsmöglichkeiten aufzubauen, die dieses geschundene Land auf völlig neue Füße stellen. Mit den jetzigen politischen Strukturen ist eine Verbesserung nicht denkbar. Sie sind gekennzeichnet durch Korruption, Unterdrückung und Ausbeutung. Die heute militärisch intervenierenden Länder müssen sich fragen, was sie tun sollten, damit sich Afghanistan selber aufbauen kann. Es muss dabei um Reparationen und Hilfe zur Selbsthilfe gehen - immer in enger Abstimmung mit den Menschen vor Ort.

Die grüne Böll-Stiftung zieht jetzt schon ihre Leute aus Kabul ab - wegen einer nicht mehr kalkulierbaren Sicherheitslage. Nicht wenige sagen: Ohne NATO wird alles noch schlimmer, dann kommt nicht die Zivilgesellschaft, dann kommen die Taliban ans Ruder.

Auch ich befürchte, dass die Lage so desolat werden könnte, wie NATO-freundliche Kräfte es beschreiben. Und zwar dann, wenn die NATO nicht abzieht. Notwendig ist jetzt ein Bruch mit der elf Jahre lang gescheiterten Kriegspolitik. Dieser Bruch beginnt mit dem Abzug der Truppen. Danach wird nicht alles rosig, aber es eröffnen sich Gestaltungsmöglichkeiten für Kräfte, die bisher marginalisiert und unterdrückt werden. Diese Kräfte gibt es, sie haben aber keine Chance, sich zu artikulieren, weil sie von der NATO und von afghanischen Unterdrückungsmechanismen klein gehalten werden. Wobei die Betonung bei diesem Szenarium auf Möglichkeiten liegt.

Sie klingen nur mäßig optimistisch. Warum?

Hinter uns liegt ein hartes Stück Arbeit. Es war nämlich gar nicht einfach, die unterschiedlichen afghanischen Gruppen in ihrer Vielfalt an einen Tisch zu bekommen. In der gesamten Vorbereitung hatten wir es mit tief sitzenden Ressentiments zu tun, mit Feindbildern und Propagandaslogans. Das Bündnis bleibt sehr konfliktreich, ist aber auch sehr spannend und wir werden uns bemühen, es nach der Konferenz weiter zu entwickeln.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 12. Oktober 2012


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