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Die einen wollen raus - die anderen wollen noch mehr Waffen

Debatte um Afghanistan-Krieg neu entfacht / Karsai und NATO uneins / Strutynski: "Die Bundeswehr muss sofort raus"


NATO-Tadel für Karsai *

Bei einem Luftangriff der NATO sind im Süden Afghanistans erneut Zivilisten ums Leben gekommen. Wie die Besatzungstruppe ISAF am Dienstag mitteilte, starben bei dem Angriff auf ein Haus zwei Frauen, ein älterer Mann und ein Kind. Aufständische hätten zuvor aus dem Gebäude heraus das Feuer auf afghanische und internationale Einheiten eröffnet, behauptete ein Sprecher. Den Militärs sei nicht bewußt gewesen, daß sich Zivilisten in dem Haus aufhielten, als sie den Luftangriff angefordert hätten, hieß es. Den Angaben zufolge starben auch vier mutmaßliche Rebellen. Die afghanischen Behörden und die ­NATO kündigten eine Untersuchung an.

Ebenfalls am Dienstag (6. April) töteten einheimische und ausländische Soldaten in der Provinz Bagdis 27 Aufständische. Das teilte der afghanische General Dschalandar Schah Behnam mit. Bereits am Montag (5. April) hatte die NATO die Verantwortung für den Tod von fünf Zivilisten eingestanden, darunter drei Frauen. Die Menschen seien bereits Mitte Februar bei einem Einsatz in der Provinz Paktia ums Leben gekommen. Bisher war seitens der Besatzer erklärt worden, die Toten seien Opfer einer Familientragödie geworden.

Unterdessen hat die NATO Afghanistans Staatspräsidenten Hamid Karsai »zur Ordnung gerufen« (AFP). Dieser hatte am Samstag (3. April) bei einem Treffen mit Stammesältesten im südafghanischen Kandahar gesagt, eine geplante Großoffensive der NATO gegen die Aufständischen in der Region hänge von ihrer Zustimmung ab. Diese Äußerungen hätten für »Beunruhigung« gesorgt, sagte NATO-Sprecher James Appathurai am Dienstag in Brüssel. Die »internationale Gemeinschaft« leiste weiterhin »enorme Anstrengungen« und bringe »Opfer«, um »Afghanistan unwirtlich für den Terrorismus« zu machen. »Wir hoffen und wir zählen darauf, daß das vom afghanischen Volk auf höchster Ebene anerkannt wird«, mahnte Appathurai. Die NATO sei ein »Partner der afghanischen Regierung«. Am Hindukusch sind derzeit 126000 Besatzungssoldaten stationiert. (apn/AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 7. April 2010


Scheindebatte um Waffen für Afghanistan

Ex-Militärs und Politiker fordern schwere Kampftechnik / Erneut Zivilisten bei NATO-Angriff getötet **

Nach dem Tod von drei Bundeswehr-Soldaten bei Gefechten in Afghanistan wird zunehmend Kritik an Ausrüstung und Ausbildung der deutschen Truppen am Hindukusch laut. Die LINKE sprach von einer Scheindebatte, mit der vom Versagen der deutschen Afghanistanpolitik seit 2001 abgelenkt werden soll.

Nach den blutigen Kämpfen von Kundus am Karfreitag (2. April) ist die Debatte über Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehr in Afghanistan voll entbrannt. Ex-Militärs fordern unter anderem mehr Kampf- und Transporthubschrauber, Aufklärungsdrohnen und Artillerieunterstützung. Der scheidende Wehrbeauftragte Reinhold Robbe bemängelte, dass das Training für Gefechtssituationen unzureichend sei. Der Zustand der vier schwer verwundeten Soldaten blieb am Dienstag stabil. Am Freitag (9. April) findet eine Trauerfeier in Niedersachsen für die drei im Gefecht mit radikalislamischen Taliban gefallenen Fallschirmjäger statt.

Vor allem Ex-Militärs halten das Material, mit dem die Bundeswehr in Afghanistan agiert, für unangemessen. Der frühere Planungschef im Verteidigungsministerium, Ulrich Weisser, sagte dem Onlineportal der »Bild«-Zeitung, es sei inakzeptabel, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht über einen einzigen Kampfhubschrauber verfügt. Der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold sagte der »Leipziger Volkszeitung«, er fordere bereits seit längerem Kampfhubschrauber.

Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, bemängelte in der »Sächsischen Zeitung«, die nötige Ausrüstung werde »immer zu spät, halbherzig und inkonsequent« zur Verfügung gestellt. Kujat sagte weiter: »Die jungen Soldatinnen und Soldaten werden von einer Nation geopfert, die ihnen alles an nötiger Technik zur Verfügung stellen könnte.« Er fügte hinzu: »Das ist ungeheuerlich.«

Der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Paul Schäfer, erklärte dagegen, die »nun angezettelte politische Scheindebatte über Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr in Afghanistan soll vom Versagen der bisherigen Afghanistanpolitik der Bundesregierungen seit 2001 ablenken«. Weder den Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten vor Ort noch der afghanischen Bevölkerung sei damit gedient. Für die LINKE hätten die tragischen Ereignisse des Oster-Wochenendes noch einmal bestätigt, dass ein Strategiewechsel dringend erforderlich ist. »Nur durch den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und die Beendigung der NATO-Militärintervention können die Weichen für Frieden und Stabilität in Afghanistan gestellt werden«, betonte Schäfer.

Unterdessen wurde bekannt, dass NATO-Truppen bei einem Luftangriff in Südafghanistan erneut vier Zivilisten getötet haben. Wie die Internationale Schutztruppe ISAF am Dienstag (6. April) mitteilte, beschossen Kampfflugzeuge am Vortag in der Provinz Helmand ein Gehöft, in dem sich angeblich Taliban verschanzt hatten. Als Bodentruppen anschließend in die Gebäude vorgedrungen seien, hätten sie neben vier getöteten Aufständischen auch vier tote Zivilisten entdeckt, darunter zwei Frauen und ein Kind. Erst am Montag hatte die NATO-geführte Schutztruppe eingeräumt, für den Tod von fünf Dorfbewohnern bei einer Militäroperation im Februar in der südöstlichen Provinz Paktia verantwortlich zu sein.

** Aus: Neues Deutschland, 7. April 2010


"Die Bundeswehr muss sofort raus"

Der Friedensforscher Peter Strutynski ist überzeugt, dass die internationalen Truppen in Afghanistan die Lage verschlimmert haben. Im FR-Interview fordert er, alle Soldaten vom Hindukusch abzuziehen und verrät, was danach passieren könnte.***

Herr Strutynski, wie lang soll die Bundeswehr noch in Afghanistan bleiben?

Die Bundeswehr muss sofort mit ihrem Abzug beginnen. Schließlich wird es vier bis fünf Monate dauern, um die knapp 5000 deutschen Soldaten komplett aus Afghanistan abzuziehen.

Sollen nur die Deutschen abziehen oder alle Truppen?

Afghanistan ist kein deutscher Krieg, sondern ein Konflikt, den die USA begonnen haben und an dem sich die Bundesrepublik stark beteiligt. Die Anwesenheit fremder Truppen in Afghanistan seit 2001 hat nicht eines der dortigen Problem gelöst, sondern viele Probleme verschärft. Deshalb müssen alle Soldaten raus.

Was wird nach einem Abzug aus Afghanistan?

Um das beantworten zu können, müsste man in die Zukunft blicken können. Sicherlich wird es nicht sofort Frieden in Afghanistan geben, wenn alle Truppen weg sind. Doch auch jetzt herrscht dort kein Frieden. Mit einem Abzug geben wir die Verantwortung zurück in die Hand der Afghanen. Sie müssen sich zusammenraufen. Ein militärischer Abzug bedeutet nicht, dass wir Afghanistan im Stich lassen. Wir müssen die zivile Hilfe massiv ausbauen. Die Kosten ließen sich finanzieren aus den Einsparungen, die ein Ende des Militäreinsatzes brächte.

Die Bundeswehr soll abziehen, die Aufbauhelfer bleiben?

Die Hilfsorganisationen sollten sich überall dort in Afghanistan engagieren, wo die Bevölkerung dies ausdrücklich wünscht. Es gibt viele Beispiele karitativer Organisationen, die zivil helfen - ohne militärischen "Schutz". Ich denke dabei an die Kinderhilfe Afghanistan, die Schulen baut.

Glauben Sie nicht, dass die Taliban an die Macht kommen?

Ich halte es für ausgeschlossen, dass das alte Taliban-Regime unmittelbar die Macht übernehmen würde. Die Taliban sind längst nicht so stark wie in den neunziger Jahren. Damals hatten der Westen und Pakistan die Taliban systematisch aufgebaut und mit Waffen ausgestattet, was sie erst zu einem Machtfaktor werden ließ. Heute dürfen wir den bewaffneten und den politischen Widerstand in Afghanistan nicht miteinander verwechseln. Das Gros der Aufständischen hat nicht viel mit den Taliban am Hut, da spielt eine ganze Reihe von unterschiedlichen Machtinteressen eine Rolle. Der afghanische Widerstand ist nicht Taliban-gesteuert.

Fürchten Sie wegen der unterschiedlichen Machtgruppen im Land einen neuen Bürgerkrieg?

Ich glaube, Afghanistan wird erst zur Ruhe kommen, wenn die afghanischen Kräfte ihre Unterstützung aus dem Ausland verlieren. Schon heute geht die Zahl der getöteten Zivilisten unter der jetzigen Isaf-Herrschaft in die Tausende. Der Westen trägt hierfür die Verantwortung. Dieser Verantwortung muss die internationale Gemeinschaft gerecht werden und massiv die zivile Hilfe aufstocken, um dem Land auf die Beine zu helfen. Nicht mit Waffen, sondern mit echter Hilfe.

Wieso spricht sich die afghanische Regierung selbst für eine weitere Nato-Präsenz aus?

Afghanistans Präsident Hamid Karsai hat so gut wie keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Deshalb folgt er einer Doppelstrategie: Karsai bittet die Nato um Hilfe - und kritisiert die Nato zugleich, um sich ein Restmaß an Unterstützung bei den Bürgern zu sichern. Das Besatzungsregime ist der Bevölkerung aber verhasst. Es wird Zeit, dass der Westen dies zur Kenntnis nimmt.

Interview: Steffen Hebestreit

*** Zur Person: Peter Strutynski ist Sprecher des "Bundesausschusses Friedensratschlag" in Kassel.

Aus: Frankfurter Rundschau, 7. April 2010



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