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Karsai droht dem Westen

Von Rainer Rupp *

Über das Osterwochenende spitzte sich in Afghanistan die militärische und politische Lage zu. Bei Gefechten mit den Taliban wurden am Freitag (2. April) drei Bundeswehrsoldaten getötet und acht zum Teil schwer verletzt. Am Abend desselben Tages erschossen deutsche Soldaten angeblich irrtümlich sechs afghanische Soldaten. Afghanistans Präsident Hamid Karsai setzte gleichzeitig seine verbalen Angriffe auf USA und NATO fort.

Zum Entsetzen der Amerikaner versprach Karsai am Sonntag (4. April) in der Hauptstadt der Region Kandahar, wo die USA für Juni eine Großoffensive planen, vor 1500 Stammesältesten, sein Veto gegen die US-Operation einzulegen, falls sich die Bevölkerung dadurch bedroht fühlte. Er rief: »Seid ihr besorgt?« »Ja, das sind wir«, riefen die Männer zurück. »Nun, wenn ihr besorgt seid, dann wird es keine Operation geben, es sei denn, ihr seid damit einverstanden«, antwortete Karsai. Die geplante Offensive solle der Provinz mehr Sicherheit bringen, erklärte er. Vorher würden aber die Stammesführer gefragt. Anwesend war auch der Oberkommandierende der NATO- und der US-Truppen in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal. Er schwieg betreten.

Seit über einem Jahr hat Karsai die US/NATO-Operationen, bei denen immer wieder Zivilisten in großer Zahl getötet wurden, von Mal zu Mal schärfer öffentlich kritisiert. Aus diesem Grund arbeitete Washington bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2009 gegen Karsai und setzte auf willfährigere Kandidaten – letztlich ohne Erfolg. Seither wirft Karsai den USA und dem Westen vor, in Kabul »ein Marionettenregime« etablieren zu wollen. Er äußerte, den USA gehe es nicht um Frieden, sondern um einen ewigen Krieg. Sie wollten aus geostrategischen Gründen in Afghanistan bleiben. Am vergangenen Donnerstag beschuldigte er die westlichen Truppen sogar, sich wie Invasoren zu benehmen, was den Taliban und anderen Aufständischen die Legitimität »einer nationalen Befreiungsbewegung« gäbe. »Wir haben unser eigenes nationales Interesse, und was die Ausländer wollen, ist damit nicht unbedingt identisch«, so Karsai. Am Sonnabend erklärte er dann vor einer Gruppe von etwa 60 afghanischen Parlamentariern: »Wenn der Westen mich weiter unter Druck setzt, dann gehe ich zu den Taliban, das schwöre ich.«

US-Präsident Barack Obama hatte in der letzten Woche 17 Stunden Flug auf sich genommen, um mit einer Kurzvisite den afghanischen Präsidenten wieder auf Kurs zu bringen. Das ist offensichtlich mißlungen. Statt dessen hatte Karsai Obama erklärt, das afghanische Volk könne »nicht durch Krieg zusammengehalten werden«. Der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, nannte Karsais Äußerungen »wirklich beunruhigend«.

Zudem wurde am Wochenende ein weiteres mutmaßliches Kriegsverbrechen der NATO in Afghanistan bekannt. Die Truppe räumte am Sonntag abend die Verantwortung für den Tod von fünf Zivilisten ein, darunter auch drei Frauen. Sie wurden bereits Mitte Februar bei einem Einsatz in der Provinz Paktia getötet. Zunächst hatten die westlichen Armeen eine Beteiligung an deren Tod abgestritten. Wie die britische Zeitung The Times und die US-Zeitung New York Times berichteten, waren an dem Einsatz US-Spezialkräfte beteiligt. Sie versuchten demnach, die Todesursache der Zivilisten zu verschleiern, indem sie die Kugeln aus den Leichen entfernten und falsche Angaben über den Hergang machten.

Bei einer NATO-Militäroperation im Osten Afghanistans starben in der Nacht zum Montag zehn Menschen.

* Aus: junge Welt, 6. April 2010

Letzte Meldungen

"Kotau vor den Taliban"

Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat mit seinem «Paukenschlag von Kandahar» die westliche Welt irritiert. Er hatte am Wochenende ausgerechnet in der Taliban-Hochburg Kandahar Widerstand gegen die geplante Großoffensive der ISAF-Truppen in dieser Provinz angedroht. Damit habe Karsai in bisher nie gekannter Weise einen «Kotau» (Verbeugung) vor den Taliban gemacht, wurde der Nachrichtenagentur ddp am Dienstag von Regierungskreisen in Washington erklärt.

«Wir sind wie unsere Verbündeten sehr irritiert und fragen uns, was da jetzt zwischen Karsai und den Taliban läuft», sagte ein hoher US-Regierungsbeamter ddp. Vertreter westlicher Geheimdienste vermuten eine «Achse zwischen Karsai und den Aufständischen». Ein Sprecher des amerikanischen Präsidenten Barack Obama nannte die Äußerungen Karsais «wirklich beunruhigend».

Besondere Aufmerksamkeit erregte nach Angaben des amerikanischen Geheimdienstes CIA ein Satz Karsais bei einem nicht-öffentlichen Treffen mit afghanischen Parlamentariern. Er habe gesagt: «Sollten die USA und ihre Verbündeten weiter meiner Regierung vorschreiben, was sie zu tun hat, kann der Aufstand der Taliban zu einer legitimen Widerstandsbewegung werden.»

Karsai hatte den Taliban mehrfach bereits Friedensgespräche angeboten. Schon oft sollen sich heimlich Abgesandte des Präsidenten mit Vertretern der Aufständischen getroffen haben. Zuletzt hatte Karsai mit dem brutalsten Kriegsherrn Afghanistans, Gulbuddin Hekmatyar, Verbindung aufgenommen. In den westlichen Geheimdiensten wird gemutmaßt, Karsai habe die «Fronten gewechselt». Ein CIA-Angehöriger meinte im vertraulichen Gespräch in Kabul, Karsai wolle «möglichst viele seiner Gegner, auch Warlords und Drogendealer, in sein Boot holen, wenn sie bloß damit einverstanden sind, dass er auf seinem Posten als Präsident bleibt».

US-Offiziere und CIA-Leute fällten über Karsai ein vernichtendes Urteil: Er sei «unberechenbar». Der Oberkommandierende der ISAF-Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal, war am Sonntag bei der Rede von Karsai vor 1500 Stammesältesten in Kandahar dabei. Der Präsident, der aus dem paschtunischen Kandahar stammt, sprach seine Landsleute so an: «Ich weiß, dass ihr wegen der NATO-Offensive besorgt seid. Seid ihr besorgt?» Die Männer riefen zurück: «Ja, das sind wir!» Karsai antwortete: «Wenn ihr besorgt seid, dann wird es keine solche Operation geben.»

Aus Kabuler Offizierskreisen war zu hören, dass McChrystal, der in Kandahar nach dem Auftritt Karsais kein Wort gesagt hatte, «fest entschlossen ist, die Großoffensive voraussichtlich im Herbst gegen die Taliban in der Provinz Kandahar durchzuführen». Der General will seine Haltung und seine Pläne für den weiteren ISAF-Einsatz bei seinem Besuch vom 18. bis 20. April in Berlin erläutern. Es wird von den westlichen Geheimdienstlern nach den Blockadeandrohungen von Karsai gegen die NATO-Offensive in Kandahar als «nicht vorstellbar» bezeichnet, gegen den ablehnenden Willen der Einwohner militärisch gegen die Taliban vorzugehen.

Auch in Berlin wird von Parlamentariern unter dem Eindruck der verwirrenden Aussagen von Karsai die Frage gestellt, wie der Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch in Zukunft gerechtfertigt werden kann. Zwar hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) kategorisch erklärt: «Wir bleiben in Afghanistan». Aber gerade nach dem blutigen Einsatz der Bundeswehrsoldaten am Karfreitag ist aus der Truppe zu hören, «welchen Sinn es macht, weitere Opfer am Hindukusch zu erleiden, wenn sich offenbar angesichts der Äußerungen von Karsai zeigt, dass sich in Afghanistan ein Umschwung zugunsten der Taliban abzeichnet». Dann «sollten wir über baldige Lösungen der schweren Problematik unseres Einsatzes in Afghanistan nachdenken», meinte ein General in Berlin.

ddp, 6. April 2010


NATO ruft Karsai nach Kritik am Westen zur Ordnung

Nach der harschen Kritik von Afghanistans Staatschef Hamid Karsai an seinen westlichen Partnern hat die NATO ihn zur Ordnung gerufen. Die internationale Gemeinschaft, die NATO-Truppe ISAF eingeschlossen, leiste "enorme Anstrengungen und Opfer, um das afghanische Volk zu unterstützen", erklärte ein NATO-Sprecher. Bei einem Luftangriff im Süden Afghanistans und bei Gefechten im Norden starben fünf Zivilisten.

Die NATO unternehme große Anstrengungen, "um Afghanistan unwirtlich für den Terrorismus zu machen", sagte NATO-Sprecher James Appathurai in Brüssel. "Wir hoffen und wir zählen darauf, dass das vom afghanischen Volk auf höchster Ebene anerkannt wird", fügte er mit Blick auf die Regierung in Kabul hinzu. Karsai hatte vergangene Woche den Westen für den Wahlbetrug bei der afghanischen Präsidentschaftswahl im August vergangenen Jahres verantwortlich gemacht. Am Wochenende hatte Karsai gesagt, eine im südafghanischen Kandahar geplante Offensive der NATO gegen Aufständische hänge von der Zustimmung der Stammesältesten ab. Diese Äußerungen hätten für "Beunruhigung" gesorgt, sagte Appathurai.

Bei einem Luftangriff der NATO auf mutmaßliche Aufständische starben am Montag in der südlichen Provinz Helmand zwei Frauen, ein älterer Mann und ein Kind in einem Haus, teilte die ISAF mit. Radikalislamische Taliban hätten zuvor aus dem Haus heraus das Feuer auf afghanische und internationale Einheiten eröffnet. Den Soldaten sei nicht bewusst gewesen, dass sich Zivilisten in dem Gebäude aufhielten, als sie den Luftangriff angefordert hätten. Bei dem Angriff wurden den Angaben zufolge auch vier mutmaßliche Rebellen getötet. Am Montag hatte die NATO die Verantwortung für den Tod von fünf Zivilisten bei einer Razzia in der Provinz Paktia im Februar eingestanden.

Im Norden Afghanistans wurden bei Gefechten zwischen ISAF-Soldaten und Aufständischen nach ISAF-Angaben ein Kind getötet und drei weitere verletzt. Über die Hintergründe herrscht Unklarheit. Zivile Opfer bei Einsätzen der internationalen Truppen sind ein hochsensibles Thema. Vor allem zwischen Washington und Kabul kommt es deshalb immer wieder zu Spannungen.

AFP, 6. April 2010


Besuch von Karsai in Washington steht auf der Kippe

Die US-Regierung erwägt, den geplanten Besuch des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai abzusagen. Hintergrund ist die Kritik des Staats- und Regierungschefs am internationalen Einsatz in Afghanistan. Wenn es weitere Äußerungen Karsais in dieser Richtung gebe, müsse geprüft werden, ob ein USA-Besuch noch konstruktiv sein könne, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, am Dienstag in Washington.

Der Besuch Karsais in Washington und ein Treffen mit US-Präsident Barack Obama im Weißen Haus ist am 12. Mai geplant. Karsai hatte in der vergangenen Woche Vertretern internationalen Staatengemeinschaft vorgeworfen, für Betrug bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr verantwortlich zu sein. Außerdem sprach er bei einem nichtöffentlichen Treffen mit Abgeordneten von der Möglichkeit, sich unter bestimmten Umständen den Taliban anzuschließen.

apn, 6. April 2010




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