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Ein schwerer Brocken

Afghanistan – Menetekel für Groß- und Weltmachtambitionen

Von Klaus Jaschinski *

Schon in der Antike und im Mittelalter hatten diverse Eroberer und Schöpfer von Großreichen ihren Fuß auf afghanischen Boden gesetzt: Persiens Achämeniden und Sassaniden, Alexander der Große, die »Weißen Hunnen« (Hephthaliten) sowie Araber und Mongolen. Was sie antrieb, war zweifelsohne die Aussicht auf reiche Beute. Allerdings winkte die nicht gerade auf afghanischem Boden, sondern in der Welt dahinter, so im Norden in Richtung Samarkand, im Osten über die Pässe des mittleren Hindukusch in Indien und im Westen im Reich der Perser. Den Eroberern diente das Gebiet des heutigen Afghanistans hauptsächlich als »Durchgangsland«, und ihre Herrschaft beschränkte sich mehr auf Handelsstraßen und Handelsplätze wie Balch, Herat, Kandahar und Kabul. An ausgedehnter flächendeckender Herrschaft bestand kaum Interesse. Zum einen, weil die Gegend recht dünn besiedelt war. Zum anderen, weil sich die hier siedelnden Stämme schon damals ausgesprochen wehrhaft zeigten.

Die fremden Herren verspürten schließlich wenig Neigung, in ausgedehnten unwirtlichen Bergregionen herumzuirren und womöglich noch in Hinterhalte zu geraten. Zu dieser Einsicht kam man aber erst, nachdem reichlich Lehrgeld gezahlt worden war. Selbst die von den Arabern zur Zeit des Kalifats massiv beförderte Islamisierung ging hier nicht rasch vonstatten. Sie dauerte annähernd vier Jahrhunderte.

Drei Kriege führte das British Empire

Das afghanische Staatswesen, das die Grundlage für das heutige Afghanistan war, wurde erst 1747 von Ahmad Khan Durrani ins Leben gerufen, der nach dem Tod des persischen Indien-Bezwingers Nadir Schah die afghanischen Abteilungen der persischen Streitmacht nach Kandahar führte und sich dort von einer Stammesversammlung zum Schah wählen ließ. Durch anschließende Eroberungszüge gewonnene Macht und Größe des Durrani-Staates währten jedoch nicht lange. Nach dem Sturz der Dynastie Ahmad Schahs 1818 zerfiel er in vier Hauptfürstentü-mer: Herat, Kabul, Kandahar und Peschawar.

Obwohl der staatliche Formierungs- und Konsolidierungsprozess von Querelen, Krisen und Kriegen überschattet nur langsam vorankam und sich noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hinzog, behielt und bewies das afghanische Staatswesen Lebenskraft. Den Quell dafür bot ein vielmaschiges Netz von Privilegien und Loyalitäten zwischen den Stämmen und der Herrscherkaste, das in tiefer Religiosität verankert beachtliche Solidarisierungseffekte freizusetzen vermochte, gerade und vor allem in Erbfolgeangelgenheiten, wenn Herrscher und Stammesfürsten von Macht und Leben Abschied nahmen, noch dazu, wenn dies nicht freiwillig geschah.

Um viel lässt sich bekanntlich schon trefflich streiten, um wenig aber erst recht, denn so üppig waren die Pfründe in Afghanistan von jeher nicht gesät. Ein Umstand, den Außenstehende wohl wahrnahmen, aber längst nicht mit der Tragweite, die er hatte. Was ihnen in erster Linie vor Augen erschien, sah ganz nach einem maroden Staatswesen aus, bei dem eigentlich ein kleiner Schubs genügen sollte, um es zu kippen und einer neuen Macht Platz zu machen.

Die ersten der neuen Eroberer im Gewand von »Weltverbesserern«, die dieser Illusion verfielen und glaubten, leichtes Spiel zu haben, waren Großbritanniens Kolonialisten. Geradezu aufgeschreckt worden waren sie durch den Russisch-Persischen Krieg von 1804 bis 1813. Das Napoleons Diplomaten hier ihre Finger mit im Spiel hatten, störte dabei weniger. Was in London und vor allem in Bombay Argwohn erregte, war das massive russische Vordringen gen Süden und speziell der Umstand, dass die Russen den persischen Schah ermunterten, gegen Afghanistan vorzugehen und sich Herats zu bemächtigen. Als dann auch noch Afghanistans Herrscher Dost Mohammad russischen Avancen zugetan erschien, schritten sie zur Tat.

Im Frühjahr 1839 fiel eine 21 000 Mann starke britisch-indische Streitmacht in Afghanistan ein. Nach Kandahar und Ghazni besetzte sie Anfang August Kabul, wo sie sich mit einer Garnison für längere Zeit einzurichten begann. Ihr Mitbringsel, der afghanische Lakai Shah Shuja, löste Dost Mohammad, der nach Indien verbannt wurde, auf dem Thron ab. Soweit schien alles nach Plan zu laufen. Doch dann kam im November 1841 das »dicke Ende«.

Unter Führung von Akbar Khan, einem Sohn von Dost Mohammad, brach in Kabul ein Aufstand aus, der die Briten völlig überraschte und sie am 6. Januar 1842 schließlich zur Aufgabe zwang. General Elphinstone's verbliebenen 4500 Mann und 12 000 Flüchtlingen wurde zwar der Abzug aus Kabul gestattet, aber am Khyber Pass, in Eis und Schnee, fielen die aufständischen Afghanen erneut über sie her. Nur wenige Inder und der legendäre Dr. Brydon entkamen dem schrecklichen Gemetzel, das weltweit für Aufsehen sorgte und sogar Theodor Fontane zu einer Ballade inspirierte. Auch Shah Shuja entging nicht der Rache. Er starb im April durch Mörderhand. Im gleichen Monat starteten die Briten eine »Strafexpedition«, die im September Kabul erreichte und für reichlich Zerstörung sorgte. Danach zogen die Briten aber wieder ab, ohne eine neue Garnison zu hinterlassen. Dost Mohammad wurde wieder erlaubt, auf den Thron zurückzukehren. Aber der revanchierte sich prompt, indem er die aufständischen Sikhs im zweiten Sikhs-Krieg (1848-1849) unterstützte.

Deutschland giert nach Kabul

Obwohl schon der erste Waffengang gegen Afghanistan (1839-1942) den Plänen der britischen Kolonialisten im Grunde mehr geschadet als genutzt hatte, starteten sie im November 1878 einen zweiten, um Afghanistans Herrscher Sher Ali von seiner angeblich zu russlandfreundlichen Haltung abzubringen. Und wieder eilte man anfangs von Sieg zu Sieg, bis es Ende Juli 1880 zur Schlacht bei Maiwand kam. Tausend britische und indische Soldaten, ausgesandt, um Ayub Khans 15 000 Mann starke Streitmacht aufständischer Afghanen zu stoppen, wurden hier von dieser ausgetrickst, überrannt und buchstäblich abgeschlachtet. In offiziellen britischen Berichten bezeichnete man die Übeltäter als »Talibs«. Klingt doch bekannt!

Im Ergebnis dieses zweiten Krieges (1878-1880) verlor Afghanistan seine außenpolitische Sou-veränität und musste obendrein nach dem Durand-Abkommen von 1893 noch Teile des Siedlungsgebiets der Paschtunen-Stämme an Britisch-Indien abtreten. Auch wenn Afghanistan im Zuge dessen zu einer Halbkolonie degradiert wurde, lag den britischen Siegern der afghanische Brocken schwer im Magen. Mit dem Durand-Abkommen hatten sie nun erst recht »die Laus im Pelz« und bekamen den »langen Arm« Kabuls zu spüren.

1895 kam es zu einem großen Aufstand der paschtunischen Grenzstämme in Britisch-Indien, der trotz blutiger Repressalien britischerseits nie ganz gebrochen werden konnte. Außerdem war es um Grenzstreitigkeiten fast zu einer direkten militärischen Konfrontation mit dem zaristischen Russland gekommen. Ruhe in dieser Angelegenheit kehrte erst nach 1907, nach Abschluss des britisch-russischen Abkommens über die Abgrenzung der Einflusssphären in Persien, Afghanistan und Tibet ein.

Der weltpolitische Streit um Afghanistan war damit aber nicht besiegelt. Ein neuer Akteur, das Deutsche Kaiserreich, begann sich bald darauf für den »langen Arm« Kabuls zu interessieren, vor allem nachdem nach Tannenberg und der Marne-Schlacht die Hoffnungen der deutschen Militärs auf einen »Blitzsieg« begraben werden mussten. Zwar hatte man das Osmanische Reich auf deutscher Seite in den Krieg stürzen können, aber der Aufruf des Sultans zum Heiligen Krieg löste weder im russischen Teil Zentralasiens noch in Indien große Aufstände der Muslime aus.

Im Frühjahr 1915 machte sich eine deutsche Delegation unter Führung von Werner Otto von Hentig und Oskar Niedermayer auf den Weg nach Kabul. Nach abenteuerlicher Reise traf sie Anfang Oktober 1915 dort ein. Sehr zum Leidwesen der Briten empfing Emir Habibullah die deutsche Delegation, zu der sich auch Österreicher, Türken und indische Nationalisten gesellt hatten, mit allen Ehren. Es gelang sogar, ihn zum Abschluss einer Art von Freundschaftsvertrag zu bewegen, der u. a. die volle Anerkennung der afghanischen Souveränität durch die Mittelmächte zusicherte. Zu einem Kriegseintritt ließ er sich jedoch nicht drängen. Und doch, die Kalkulation der deutschen Militärs schien aufzugehen, wenngleich verspätet, nach dem Untergang des Deutschen Kaiserreiches.

Nach dem gewaltsamen Tod von Emir Habibullah im Februar 1919 übernahm der charismatische Amanullah die Staatsgeschäfte und proklamierte kurz darauf die Wiederherstellung der vollen Souveränität des Landes. Anfang Mai 1919 eilten schließlich Kämpfer aus Afghanistan ihren bedrängten Stammesbrüdern in der Grenzregion Britisch-Indiens zu Hilfe, was den dritten britisch-afghanischen Krieg auslöste. Obwohl das britische Militär hier schnell wieder die Oberhand gewann, konnte es den greifbar nahen Sieg nicht auskosten. In London und Bombay hatten andere Probleme Vorrang. Die Anerkennung der afghanischen Unabhängigkeit mit dem Vertrag von Rawalpindi, der diesen dritten Waffengang beendete, war dagegen leicht zu verschmerzen.

Mochte in Afghanistan danach auch Ruhe einkehren, die Situation in der Grenzregion Britisch-Indiens blieb indes weiter angespannt. Zwei der ärgsten Widersacher der Briten waren hier Abdul Ghaffar Khan mit seinen »Dienern Gottes« und der Fakir von Ipi mit seinen Gefolgsleuten, die dem britischen Militär geradezu Lehrstücke in asymmetrischer Kriegsführung verabreichten. Sogar die späteren britischen Feldmarschälle Auchinleck und Alexander, die im Kampf gegen Rommels Afrika-Korps Lorbeeren einheimsten, waren hier glücklos zu Gange gewesen. Allein um den Fakir von Ipi zu erwischen, wurde britischerseits ein riesiger Aufwand betrieben. Es gelang nicht. Er starb 1960 unbehelligt in Pakistan.

»Nice Wars« gibt es nicht

Betrachtet man die drei britisch-afghanischen Kriege, so drängt sich fast eine Parallele zu den Punischen Kriegen in der Antike auf. Afghanistan gibt es schließlich immer noch. Doch was ist von dem einst so mächtigen britischen Empire geblieben? Sicher, Afghanistan für dessen Niedergang oder gar den Zusammenbruch der Sowjetunion, die 1978 ihr afghanisches »Abenteuer« startete, verantwortlich machen zu wollen, erscheint in der Tat weit hergeholt. Eines hat der afghanische Widerstand jedoch schon damals deutlich vor Augen geführt: Vorstellungen, hier einen »niedlichen Krieg« (nice war) führen zu können, sind völlig absurd. Mag sein, dass der afghanische Widerstand Zeit braucht, um sich zu formieren. Ist er aber einmal in Fahrt gekommen, dann hat man es mit einem gnadenlosen Gegner zu tun, der selbst technisch weit überlegenen Kräften den Schneid abzukaufen vermag.

Das dürfte man inzwischen auch in Washington begriffen haben. Nicht von ungefähr ging US-Verteidigungsminister Gates jüngst in Vilnius und München mit markigen Reden auf Dummenfang, um Willige fürs Sterben in Afghanistan zu rekrutieren. Die Briten hatten damals dafür die Britisch-Indische Armee. Aber die gibt es bekanntlich nicht mehr.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2008


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