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"Ich würde die Bundeswehr schon morgen abziehen"

Oberstarzt a.D. Reinhard Erös über seine Erfahrungen in Afghanistan


Reinhard Erös, Oberstarzt a. D., ließ sich 2002 von der Bundeswehr vorzeitig in den Ruhestand versetzen, um sich seiner 1998 gegründeten Organisation »Kinderhilfe Afghanistan« (www.kinderhilfe-afghanistan.de) zu widmen. Die Organisation hat seither in den Ostprovinzen Afghanistans Friedensschulen, Mutter-Kind-Kliniken, Gesundheitsstationen, Waisenhäuser, Solarwerkstätten und weitere Projekte ausschließlich mit privaten Spendengeldern errichtet. Matthias Wetzel sprach für das "Neue Deutschland" (ND) mit Dr. Reinhard Erös.

ND: Sie sind ein scharfer Kritiker des Militäreinsatzes in Afghanistan und fordern seit mehr als zehn Jahren Verhandlungen mit den Taliban. Warum kommt man an diesen Leuten nicht vorbei?

Erös: Weil sie qualitativ und quantitativ in Afghanistan und in Pakistan wieder eine derartige Bedeutung haben, dass man sie einfach nicht übergehen kann. Sie sind tief verwurzelt in der paschtunischen Bevölkerung. Nicht weil man ihre Positionen oder ihre Personen so hoch schätzt oder für unterstützenswert hält, sondern weil die Alternative noch viel schlimmer ist.

Wie sähe die denn aus?

Das ist wie Pest und Cholera. Vielen Leuten, die politisch denken, gerade auch Jüngeren, ist klar: Die eine Möglichkeit sind die jetzigen Machthaber, die bis auf die Knochenhaut korrupt sind, die über Leichen gehen, die aus Afghanistan einen hoch kriminellen Drogenstaat machen – und die andere sind die Taliban. Eine dritte Möglichkeit, die wir uns immer so gern vorstellen, also Demokratie, rechtsstaatlich denkende Bürger und Zivilgesellschaft – dafür gibt es fast kein Personal. Die Wenigen, die es gibt, spielen keine Rolle oder sie hauen ab, weil sie sagen: Das Land geht vor die Hunde. Dadurch haben die Religiösen inzwischen wieder eine Bedeutung erlangt, die vor vier oder fünf Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Hätte man mit einer anderen Strategie mehr erreichen können?

Verhandlungen mit den Taliban hätte man unmittelbar nach dem Sturz Mullah Omars viel billiger haben können. Zumindest drei Jahre lang hatte man ein Zeitfenster, als die Taliban schlicht geschlagen waren, politisch und militärisch. Damals hätte man die Bedingungen fast diktieren können. Der arrogante Kreuzzug von George W. Bush – nach dem Motto: Wir machen euch alle fertig – war ein Fehler, der jetzt kaum mehr zu korrigieren ist. Die Taliban sehen sich auf der Siegerstraße, in Afghanistan auf alle Fälle, was die Unterstützung im Osten und im Süden betrifft, und was die Ablehnung der ISAF-Truppen angeht inzwischen auch im Norden. Auch das Bild der Deutschen hat sich in den Augen der Paschtunen-Bevölkerung spätestens seit der Bombardierung von Kundus dramatisch verändert. Um die Taliban werden wir jedenfalls in der nächsten Regierung nicht herumkommen.

Durch den ISAF-Einsatz sollten diese Gruppen doch eigentlich geschwächt werden. Wir haben das Gegenteil erreicht. Wenn ich was zu entscheiden hätte, würde ich die Truppen morgen abziehen. Als erstes würde ich dafür sorgen, dass sie ab sofort in ihren Kasernen bleiben. Man kann sie ja nicht von heute auf morgen abziehen, rein logistisch ist das unmöglich. Aber sie könnten zumindest draußen kein Unheil mehr anrichten. Im letzten Jahr gingen von allen getöteten Kindern in Afghanistan mehr als die Hälfte auf das Konto der NATO-Truppen. Das erzeugt eine Gewaltspirale, weil die Toten nach dortigen Ehrbegriffen gerächt werden müssen.

Welches Bild hat die Bevölkerung von den Ausländern?

Viele Afghanen glauben: Die Ausländer haben uns Krieg, Unsicherheit und Instabilität gebracht und engagieren sich aus politischem Eigennutz. Sie glauben jedenfalls nicht, dass wir es um der Afghanen willen tun, um ihr Land wieder aufzubauen. Die Mächtigen und Reichen sind natürlich begeisterte Anhänger einer Präsenz des Westens. Nicht weil sie uns schätzen und mögen, sondern weil sie davon profitieren. Wir sind ihre »dummen Gönner«, die ihnen Geld in alle Taschen stecken. Da gehen Koffer voller Dollars von Kabul nach Dubai – durch Geschäfte oder direkte Korruption. Auch der Drogenanbau funktioniert nur mit unterstützender Duldung des Westens. Ein Großteil der militanten Aktivitäten geht nicht auf religiös Verrückte zurück, sondern hat einen kriminellen Hintergrund. Kriminelle Geschäfte gedeihen in Kriegszeiten eben besonders gut!

Ist das Vertrauen der Bevölkerung auf Dauer verspielt?

Es wird eine neue politische Generation geben. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind heute jünger als 15 Jahre.

Und haben die noch Vertrauen in den Westen?

Wir müssen uns um die Jugend kümmern. Konzentrieren wir uns darauf, dass jedes afghanische Kind eine gute Schul- und Berufsausbildung bekommt, dass jeder junge Mann und jede Frau einen Beruf ausüben, Geld verdienen und eine Familie gründen kann. Der Ansatz, politische Feinde militärisch zu bekämpfen und nicht auf die Ursachen zu schauen, ist grundfalsch. Militärs haben in den Einrichtungen unserer Kinderhilfe zum Beispiel keinen Zutritt, weil wir andernfalls zu potenziellen Angriffszielen würden. In unseren Schulen erhalten die Schüler Sicherheitsunterricht, sie lernen, sich von Soldaten fernzuhalten, um Angriffen zu entgehen.

Sie sagen also: Geldhahn zu, Militär raus?

Militär auf jeden Fall raus. Die Anwesenheit des westlichen Militärs ist kontraproduktiv, weil die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit die Soldaten inzwischen mindestens als Besatzer, wenn nicht als echte Feinde empfindet. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird die Lage weiter eskalieren. Inzwischen gibt es eine Generation von Taliban, die aus ihren Fehlern, etwa dem Ausschluss der Frauen aus der Gesellschaft, gelernt hat. Aber es gibt auch eine Generation gebildeter junger Leute, die es zur Talibanzeit nicht gab. Die nächsten zwei, drei Jahre müssen wir unbedingt nutzen. Sonst wird es sehr gefährlich, nicht nur für Afghanistan.

Die Afghanen brauchen auch nicht mehr Geld, um ihr Land aufzubauen: 90 Prozent der Gelder, die wir hingegeben haben, sind in die Taschen korrupter Politiker und Beamter gewandert. Wir müssen jetzt in jeder Hinsicht auf die Jugend setzen. Nicht mehr Geld ausgeben, sondern es besser einsetzen. Weniger Soldaten, dafür praktische Aufbauhilfe.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juni 2011


Fantasie am Hindukusch

Von Olaf Standke **

Fantasie für die friedliche Konfliktlösung in Afghanistan hat Ex-Bischöfin Margot Käßmann unlängst auf dem Kirchentag in Dresden gefordert. Nun ist die Idee von Verhandlungen mit »gemäßigten« Taliban nicht neu, hinter den Kulissen soll es schon informelle Kontakte gegeben haben. Doch fällt auf, dass sie auch offiziell wieder stärker ins Spiel gebracht wird. Erst hat der scheidende Pentagon-Chef Robert Gates gute Chancen für Gespräche noch in diesem Jahr ausgemacht. Nun wurde bekannt, dass die UNO Verdächtige von ihrer Terrorliste streichen will. Im Zuge der Kabuler Versöhnungspolitik sollen damit auch die verhängten Sanktionen aufgehoben werden – vorausgesetzt, diese Taliban schwören der Gewalt ab und bekennen sich zur afghanischen Verfassung.

Noch umfasst die Schwarze Liste fast 500 Namen; 50 sähe Präsident Hamid Karsai gern getilgt. Sie wären wohl potenzielle Verhandlungspartner – so sie denn gesprächsbereit sind und Einfluss besitzen. Ganz davon abgesehen, dass in der Bevölkerung erhebliche Überzeugungsarbeit dafür geleistet werden müsste. Noch besser wäre es natürlich, die politische Fantasie in Washington, Brüssel und Berlin reichte bis zur Ausrufung eines Waffenstillstands als entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Friedensverhandlungen und einen schnelleren Truppenabzug.

** Aus: Neues Deutschland, 9. Juni 2011 (Kommentar)


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