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Richtiges Verhalten am Hindukusch: Wie ein Afghane unter Afghanen

Welche Regeln ein Zivilist befolgen muss, wenn er am Hindukusch unterwegs ist - und wer dort nichts zu suchen hat.

Von Reinhard Erös *

Wer heute nach Afghanistan geht, ob als Journalist, Soldat, ziviler Helfer oder als Geschäftsmann, der sollte vorher Rudyard Kipling gelesen haben. Der britische Literaturnobelpreisträger und begeisterte Kolonialist schrieb 1896 in seinem Gedicht Der junge britische Soldat: "Wenn du verletzt bist und auf den afghanischen Feldern liegenbleibst, und wenn die Frauen kommen und klein schneiden, was übrig bleibt, dann roll dich zu deinem Gewehr und schieß dir das Hirn raus, und dann geh zu deinem Gott wie ein Soldat."

Ich hatte meinen Kipling 1986 zwar gelesen, bevor ich mich während der sowjetischen Besatzung, von meinem Arbeitgeber Bundeswehr unbezahlt beurlaubt, als Arzt heimlich über die Berge Ost-Afghanistans quälte. Der ehemalige Fallschirmjägeroffizier Erös war körperlich topfit, und der Arzt handwerklich auf dieses Abenteuer gut vorbereitet.

Ich ahnte aber nicht im Traum, was mich in dieser extrem unwirtlichen Bergwelt und in der archaischen Stammesgesellschaft der Paschtunen unter den Bedingungen eines Guerillakriegs erwarten würde.

"In Rome do as the Romans do"

Tatsächlich hat Afghanistan in den dann folgenden vier Jahren all meine Befürchtungen übertroffen.

Wenn ich heute regelmäßig im Osten des Landes bei meinen Aufbauprojekten unterwegs bin, bemühe ich mich, die alte britische Kolonialweisheit zu beherzigen: "In Rome do as the Romans do."

Ich trage selbstverständlich einheimische Bekleidung, fahre in einem gebrauchten Pick-up mit afghanischem Kennzeichen, ohne Logo einer Entwicklungshilfe-Organisation und Funkantenne in die Dörfer, trete als Ausländer möglichst gar nicht in Erscheinung, sondern überlasse Gespräche und Verhandlungen, wo immer möglich, meinen afghanischen Mitarbeitern.

Es herrscht wieder Krieg im Land. Und in Kriegszeiten sind in dieser Welt Fremde immer verdächtig und gefährdet. Die Gefahren sind heute nicht wesentlich andere als zu Kiplings Zeiten: extreme Hitze und Kälte, desolate Hygiene auf dem Land, fehlende Infrastruktur, gerade im medizinischen Bereich, Straßenräuber, für die jeder Ausländer eine willkommene Beute darstellt.

Waren vor zwanzig Jahren sowjetische Spezialtruppen und Kampfhubschrauber unsere militärische Bedrohung, so sind es heute Millionen Minen und Blindgänger, gut organisierte Banden sowie die Taliban, die auf jeden "reichen" Ausländer Jagd machen - nicht um ihn zu töten, sondern um politisches oder finanzielles Kapital aus ihm zu schlagen.

Die Länder, die Truppen für Afghanistan gestellt haben, bereiten ihre Soldaten auf die Gefahren vor und gewähren beim Einsatz optimalen Schutz. Jeder deutsche Soldat wird vor seinem Einsatz auf körperliche und geistige Verwendungsfähigkeit im Ausland untersucht. Er erfährt eine halbwegs gut vorbereitende Ausbildung auf Land und Leute.

Für jede Patrouille der Bundeswehr im Norden steht rund um die Uhr Nothilfe mit modernen Rettungshubschraubern bereit. Jeder auch noch so kleine Einsatz wird detailliert geplant, und jedes Kommando verfügt über leistungsstarke Kommunikationsmittel, um sofort Hilfe anfordern zu können.

Wir wissen bis zum heutigen Tag nicht sicher, wer hinter der Entführung der beiden Deutschen vor sechs Tagen steckt. Vermutlich werden wir es auch nie genau erfahren. Zu komplex sind die Stammesstrukturen im Süden und Osten, die Beziehungen zwischen paschtunischen Dörfern, zu undurchsichtig die Verbindungen zwischen Politikern, Drogenhändlern, Warlords, kriminellen Banden und den militanten Religiösen. Afghanistan-Erfahrene wissen aber, dass man jede Fahrt über Land peinlich genau vorbereiten muss.

Wahnwitzige Ideen

Wer etwa auf die wahnwitzige Idee kommt, dort im Freien zu übernachten, wie es vor einigen Monaten zwei deutsche Journalisten gewagt haben, der begibt sich in akute Lebensgefahr. Und wer mit ernsthaften Vor-Erkrankungen nach Afghanistan reist und dauerhaft auf Medikamente angewiesen ist, wie es angeblich bei der ums Leben gekommenen Geisel der Fall war, und dann auch noch Kabul verlässt, der nimmt ein nicht kalkulierbares Risiko auf sich.

Großorganisationen, Firmen und Geschäftsleute, die in Afghanistan das große Geld wittern, versündigen sich an ihren Mitarbeitern, wenn sie diese zwar mit klimatisierten Geländefahrzeugen ausstatten, ihnen afghanische "Bodyguards" zur Verfügung stellen und eine hohe Sicherheitsprämie bezahlen, sie aber ohne vorherige Prüfung auf körperliche Tauglichkeit und ohne umfassende Vorbereitung auf Reisen aus Kabul hinaus über Land schicken.

Optisch sichtbarer "Schutz" , mit bewaffneten Begleitern also, sowie Bequemlichkeiten wie das Reisen in komfortablen, sichtbar teuren Landcruisern mit sichtbaren Funkantennen bedeuten eine viel größere Gefahr als die Fahrt im gebrauchten Corolla, dem Standardfahrzeug vieler Afghanen.

Nach meinen Erfahrungen vor allem der vergangenen drei Jahre handeln hier etliche Firmen - auch deutsche - leichtsinnig, manche sogar kriminell fahrlässig, indem sie ihre Mitarbeiter erstens mangelhaft vorbereiten und ihnen dann auch noch falsch verstandene Fürsorge angedeihen lassen. Dies gilt ausdrücklich nicht für die deutschen Hilfsorganisationen im Norden des Landes, welche inzwischen ganz bewusst auf "Begleitschutz" durch deutsches Militär verzichten. Soldaten wirken wie ein Magnet auf militante Kämpfer.

Unterschätzte Raffinesse

Ob tatsächlich Taliban-Gruppen an der Entführung der beiden Deutschen beteiligt waren, ist eigentlich egal. Die Gotteskrieger haben, indem sie die Tat für sich reklamiert haben, bereits ein wesentliches Ziel erreicht: Die innenpolitische Diskussion in Deutschland zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan wird neu entfacht. Bei uns überschätzt man vielfach die klassisch militärischen Fähigkeiten der militanten Religiösen, man unterschätzt aber zugleich ihre politische Raffinesse.

Dank Internet weiß man inzwischen in jeder radikalen Koranschule in Pakistan, den geistigen Produktionsstätten vieler Talibankämpfer, von der im Herbst anstehenden Entscheidung über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. Und man weiß auch, wie wichtig der Einsatz Deutschlands für die Zukunft Afghanistans hat.

Wenn Entführer mal die Freilassung ihrer Kampfgefährten fordern, und mal, dass die Deutschen sofort Afghanistan verlassen müssen, so heißt das noch nicht, dass die Geiseln nun in akuter Lebensgefahr schweben. Es heißt aber, dass sie über Wochen und Monate benutzt werden, um auf die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger in Deutschland Druck auszuüben.

* Reinhard Erös, Oberstarzt a.D., ist Gründer der "Kinderhilfe Afghanistan“. Er ist verantwortlich für mehrere Mädchenschulen, Waisenhäuser und Gesundheitsstationen im Osten des Landes.

Dieser Beitrag erschien am 24. Juli 2007 in der "Süddeutschen Zeitung" und wurde uns freundlicherweise zu Dokumentationszwecken vom Autor zur Verfügung gestellt.


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