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Frauen werden als Währung gehandelt

Ungebrochene Warlord-Kultur in Afghanistan. Ein Kommentar

Von Malalai Joya *

Kurz nach dem Sturz der Taliban im Oktober 2001 verkündete Präsident Bush, dass "die Frauen Afghanistans jetzt frei" seien. Doch wie können unsere Frauen frei sein, wenn das Land in den Händen von Warlords geblieben ist, die bis auf die Knochen frauenhasserisch sind?

Ich möchte dafür nur ein paar schockierende Beispiele geben. Niemals war die Zahl der Selbstmorde von afghanischen Frauen als Folge von Armut, Not und Ungerechtigkeit so hoch wie heute. Die unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan hat ermittelt, dass allein in der Provinz Herat im vergangenen Jahr 104 Fälle von Selbstverstümmelung dokumentiert wurden. Bezogen auf das gesamte Staatsgebiet werden 54 Prozent aller Kinder mit Behinderungen geboren. Die durchschnittliche Lebenserwartung afghanischer Frauen beträgt nur 44 Jahre. Viele Familien verkaufen die Töchter als Bräute - teilweise wenn sie gerade einmal zehn Jahre alt sind - um Armut zu lindern. Mädchen werden in Afghanistan nach wie vor wie eine Währung gehandelt, Zwangsehen sind üblich. Befehlshaber der Nordallianz entführen Frauen und Mädchen in Gebieten, die unter ihrer Kontrolle stehen: die elfjährige Sanobar zum Beispiel, die vergewaltigt und dann gegen einen Hund eingetauscht wurde. Dieser Episode ließen sich Hunderte ähnlicher Vorfälle anfügen. Nach Angaben der britischen Hilfsorganisation Oxfam besucht nur eines von fünf Mädchen die Grund- und eines von 20 eine weiterführende Schule. Frauen, die es wagen, einer Arbeit außerhalb des eigenen Haushalt nachzugehen, werden bedroht oder ermordet wie zuletzt Shokiba Sanga Amaaj, Zakia Zaki, Shaima Rezayee und Nadia Anjuman.

Was ich beschreibe, muss fragmentarisch bleiben, aber es reicht wohl, um anzudeuten, dass mein Land einer Zeitbombe gleicht, die jederzeit explodieren kann, denn das Patriarchat der Waffen und der Drogen ist ungebrochen.

Die USA und ihre Alliierten haben das barbarische Taliban-Regime zwar gestürzt, aber nicht den islamischen Fundamentalismus beseitigen können. Sie haben stattdessen der Nordallianz zur Macht verholfen, die nicht weniger ignorant und frauenfeindlich denkt und handelt, als die Taliban es taten.

Die Korruption in der Regierung lenkt Milliarden Dollar an Hilfsgeldern in die Taschen von Offiziellen. Es kann daher nicht verwundern, dass die Regierung außerstande ist, Wasser und Elektrizität für alle zu garantieren, und die Mehrheit der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt.

Im März hat Integrity Watch Afghanistan eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass zwei Drittel der Afghanen meinen, die jetzige Administration sei korrupter als irgendeine Regierung der vergangenen 20 Jahre. Izzatullah Wasifi, Hamid Karzais Anti-Korruptionschef, hat selbst eine kriminelle Vergangenheit und saß in den USA wegen diverser Drogendelikte im Gefängnis.

Es ist eine Schande nicht nur für die USA, sondern die gesamte internationale Gemeinschaft, die in meinem Land präsent ist, dass die Taliban zu Zeiten ihrer Herrschaft den Opiumanbau immerhin reduziert haben, während heute aus Afghanistan 93 Prozent der Welt-Opiumproduktion kommen. Noch beschämender ist es, dass die meisten dieser Drogen in den Straßen von New York oder in Europa verkauft werden. Sogar Präsident Karzai hat den Westen für die Expansion des Opiumanbaus schuldig gesprochen.

Leider ist auch das Parlament ein Treffpunkt für Drogenbarone und Menschenrechtsverletzer. Neun von zehn Abgeordneten stammen aus bewaffneten Strukturen und haben ihre Mandate nicht selten mit dem Gewehr im Anschlag erobert. Human Rights Watch schrieb bereits vor einem Jahr: "Warlords, die während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt habe - wie General Rashid Dostum und Vize-Präsident Karim Khalili - wurden Machtpositionen zugewiesen, was einer Demütigung für die afghanische Bevölkerung gleichkommt." - Es liegt auf der Hand, dass der Westen nicht wirklich an Frieden und Stabilität in unserem Land interessiert sein kann, wenn er das zulässt.

Meine Landsleute wissen, dass Deutschland und andere Länder Truppen auf Druck der USA zu uns geschickt haben, um zu demonstrieren, dass der so genannte "Krieg gegen den Terror" ein internationales Engagement gegen Terroristen ist. In der Realität aber werden diese Soldaten selbst zu Opfern, ihr Blut wird nicht zum Nutzen der afghanischen Bevölkerung vergossen, sondern der USA.

* Malalai Joya ist Abgeordnete der Loya Jirga in Kabul

Aus: Freitag 40, 5. Oktober 2007



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