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Afghanistan braucht zivile Aufbauhilfe, keine Tornados

Ein Kommentar von Dr. Angelika Claußen *

Auf eine Nato-Anfrage hin will die Bundesregierung sechs Tornados in den umkämpften Süden Afghanistans entsenden. Die dadurch ausgelöste Diskussion über die Auslegung des Bundeswehr-Mandats täuscht darüber hinweg, dass die ISAF-Mission schon jetzt ein Misserfolg ist: Fünf Jahre nach dem Beginn des Krieges sind die USA und ihre Verbündeten gescheitert, die humanitäre Situation zu verbessern und den Afghanen den Weg zur Demokratie zu ebnen. Ein nüchterner Blick auf die wenigen Informationen, die UN-Organisationen über Afghanistan veröffentlichen, zeigt die katastrophale Situation:

In der Hauptstadt Kabul sind etwa 50-70 Prozent der 2.5 Millionen Bewohner arbeitslos. Die meisten von ihnen müssen mit einem Einkommen von weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Dementsprechend liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Person in Afghanistan bei 200 Dollar. Armut und Zerstörung der Infrastruktur, mangelhafte Ernährung, schlechte hygienische Zustände und ein durch zwei Jahrzehnte Bürgerkrieg kollabiertes Gesundheitssystem spiegeln sich in der Bevölkerungsstatistik wider: Die Lebenserwartung der afghanischen Frauen beträgt kaum 47 Jahre (Männer: 48). Von 1000 lebend geborenen Kindern in Afghanistan sterben 256 bis zum fünften Lebensjahr. (Vergleich Irak: 131/1000) Von 100.000 Müttern sterben 1600 während oder kurz nach der Entbindung (zum Vergleich: Irak auf dem Höhepunkt der UN-Sanktionen 370/100.000, Zentralafrika: 1300/100.000). Der Grund für diese immens hohe Müttersterblichkeit liegt darin begründet, dass Männer aus Angst vor den Fundamentalisten ihre Frauen nicht zu den Gesundheitsstationen gehen lassen. Das Leid der Kriegswitwen lässt sich dagegen nicht in Zahlen beschreiben: Laut einer Umfrage von UNICEF sehen rund 30.000 Witwen in Kabul im Selbstmord ihre einzige Zukunftsperspektive.

Im Herbst dieses Jahres warnte die internationale Hilfsorganisation Christian Aid, dass 2.5 Millionen Afghanen von Hungersnot bedroht sind. Der Grund: Dürre und ausbleibenden Ernten. Das Leiden der Bevölkerung wird durch den jahrelangen Kriegszustand immer weiter verschärft. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars müssen etwa 15.000 Familien wegen Kampfhandlungen aus den Provinzen Kandahar, Uruzgan und Helmand fliehen.

Der "Kampf gegen den Terror" verschlingt Milliarden

Im Kontrast dazu stehen die Ausgaben für den Kampf gegen den Terror in Afghanistan: 9.6 Milliarden US-Dollar kostete dieses Jahr allein der Einsatz der US-Streitkräfte in Afghanistan. Zwischen 2002 und 2005 bezahlte die deutsche Bundesregierung rund 1.4 Milliarden Euro (so genannte einsatzbedingte Zusatzausgaben), um »am Hindukusch die Sicherheit Deutschlands zu verteidigen«.

Angesichts dieser Zahlen müssen meiner Meinung nach die Prioritäten in der Afghanistan-Politik neu gesetzt werden. Die Probleme in Afghanistan heißen Arbeitslosigkeit, horrende Mütter- und Kindersterblichkeit und Dürre - nicht Terror und fehlende Tornados. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, ob und wie deutsche Tornados Kampfhandlungen unterstützen können, sollten wir nachdenken, wie wir langfristig den Hunger der Menschen stillen und wirkliche Aufbauhilfe durch zivile Kooperationen leisten können. Auch ein Abschiebestopp für hier lebende Flüchtlinge aus Afghanistan ist unabdingbar.

* Dr. med. Angelika Claußen arbeitet als Psychotherapeutin mit traumatisierten Flüchtlingsfrauen und ist Vorsitzende der deutschen Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung)

Aus: Frankfurter Rundschau vom 23. Dezember 2006



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