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Kandahar – eine Geisteshaltung

Die Reisen des Jason Burke in die muslimische Welt. Buchbesprechung

Von Heinz-Dieter Winter *

Als die U.S.-Army mit ihren afghanischen Hilfstruppen im November 2001 die Höhlenfestung Tora Bora angriffen, um Osama bin Laden tot oder lebendig zu fassen, war Jason Burke dabei. Dem britischen Journalisten wurde bei dieser Gelegenheit klar, dass hier ein komplexer historischer Prozess kulminierte, der viele Fragen aufwirft und dringend der Klärung bedarf. So veröffentlichte er 2003 eines der bisher klügsten Bücher über Al Qaida, in dem er den »Krieg gegen den Terror« als verfehlt charakterisierte, weil westliche Politik nicht den Ursachen des radikalen Islamismus auf den Grund ging. Drei Jahre später legte er ein neues Buch vor, in dem er die Resultate dieser verfehlten westlichen Politik analysiert.

Ob in Afghanistan, Pakistan, Irak, Palästina, Algerien, Kaschmir oder Thailand – überall führte Burke Gespräche mit gläubigen Muslimen, radikalen Islamisten, mit Anhängern von Al Qaida, mit den Familienangehörigen von Selbstmordattentätern und mit ganz normalen Bürgern, die einfach nur in Frieden leben wollen. Er will die gesellschaftlichen und gruppendynamischen Ursachen islamistischer Gewalt ergründen. Häufig befand er sich mitten im Kampfgeschehen, so im Juli 2004, als US-Truppen im irakischen Nadschaf Schiitenführer Muktada al Sadr zu ergreifen versuchten, der sich dort mit seiner Miliz verschanzt hatte.

Burkes Beschreibungen kriegerischer und terroristischer Gewalt gehen unter die Haut: Der 13-jährige Walid steigt mit Gleichaltrigen in einen Bus – eine Fahrt in den Tod. Einen israelischen Bunker greift er mit Steinen und Benzinbomben an. Er wird von einer Kugel getroffen. Die Familie feiert ihn als Märtyrer. Die täglichen Demütigungen der Palästinenser schüren Frustration und Wut, schaffen den Nährboden für Gewalttaten. Durch das Fernsehen in die gesamte islamische Welt übertragen, würden Aktionen wie die von Walid einem »ohnehin bereits aufgeschlossenen Publikum« zeigen, dass man handeln könne und sollte. Burke macht deutlich, dass die Beendigung der israelischen Besetzung der Palästinensergebiete von zentraler Bedeutung für die Beendigung islamistischer Gewaltaktionen überhaupt ist.

Bei seiner Suche nach Antworten gelangt der Autor zu bemerkenswerten Schlussfolgungen: Am Anfang der Radikalisierung und Gewaltbereitschaft steht überall die Unzufriedenheit mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zuständen und das Gefühl, seit den Kolonialzeiten bis heute vom »Westen«, wie die pauschale Zuordnung lautet, gedemütigt zu werden. Burke gelangte zur Ansicht, dass »jede Religion das ist, was ihre Anhänger aus ihr machen«, und der Islam ein Potenzial besitzt, das sich zur Rechtfertigung entsetzlicher Brutalität eigne, aber auch Mut machen könnte »zu größerer Barmherzigkeit und Toleranz«. Der Autor ist empört und zugleich traurig darüber, dass der Terror Bin Ladens und seiner Anhänger, »einer Minderheit innerhalb einer Minderheit«, mit dem Islam gleichgesetzt werden und selbst Kollegen und Freunde von ihm diese Weltreligion für eine rückständige halten, »die Muslime« als eine Bedrohung der Grundwerte der liberalen Demokratie ansehen. Das Gerede vom »Kampf der Kulturen« sei lächerlich, aber gefährlich. Die Befürworter dieser Formel im Westen wie in der islamischen Welt würden ähnliche Ansichten vertreten. Sprechen die einen von »der islamischen Welt« als einem monolithischen Block, reden die anderen undifferenziert vom »Westen unter Führung Amerikas«.

Die Tragödie Afghanistans sieht Burke in der einst kosmopolitischen, blühenden Handelsstadt Kandahar symbolisiert, die unter den Taliban ein »unfruchtbarer und freudloser Ort wurde, eine ummauerte Festung gegen alle Bedrohungen von außen, ein Wüstenfort gegen die Gefahren der Moderne und des Fortschritts«. Von der traditionellen afghanischen Stammesgesellschaft seien »Moderne« und »Fortschritt« immer als äußere Bedrohung empfunden worden – so im 19. Jahrhundert, personifiziert durch die Briten, dann durch afghanische Monarchen, die aus Europa importierte Ideen zu implantieren versuchten, und schließlich durch das »marxistische Regime« in den 70er Jahren sowie die Sowjetarmee. Der Kampf gegen äußere Einflüsse wurde unter dem Banner des Islam ausgetragen. Angesichts dieser Erfahrungen sei es nicht verwunderlich, dass für viele Afghanen »die Moderne« gleichbedeutend ist mit Krieg, Gewalt und Chaos. Burke betont die unterschiedlichen lokalen und historischen Bedingungen in den einzelnen islamischen Ländern. Dennoch sei »Kandahar« – von ihm als »Geisteshaltung« gesehen – charakteristisch für viele islamistische Strömungen. In diesem Buch wird viel Richtiges formuliert. Völlig fehl geht der Autor jedoch mit der von ihm behaupteten Ähnlichkeit zwischen Islamismus und Marxismus.

Burkes Urteil drei Jahre nach Tora Bora: Der Westen hat versagt. Es gibt keine wirksame politische Strategie gegen den Terror. Es werden nur Lippenbekenntnisse abgegeben, nicht die Wurzeln des islamistischen Terrorismus zu beseitigen versucht, nicht die Vielgestaltigkeit der muslimischen Welt anerkannt und auch die Notwendigkeit der Gewinnung gemäßigter Schichten sträflich ignoriert. Auf Gewalt reagiere man mit Gegengewalt. Das Gefühl der Demütigung in der arabischen Welt habe sich verstärkt, seit westliche Panzer vor der Haustür stehen. Aus der breiten Unterstützung, die die USA nach dem 11. September selbst in der muslimischen Welt genossen hatte, sei erbitterte Feindseligkeit geworden. Das macht Burke vor allem am Irak-Krieg und dessen Folgen deutlich. Er sprach mit Irakern, auch mit einem Mitarbeiter eines wichtigen Ministeriums, der anfangs die Invasion begrüßt hatte, dann aber gegen sie kämpfte.

Am Ende seiner Reisen konstatierte Burke, dass Wut und Unmut in der islamischen Welt gewachsen seien, ebenso die Zahl aktiver Kämpfer. Dennoch sieht er weltweit keine Tendenz »in Richtung Massenerhebung der muslimischen Gemeinschaften«. Nirgends begegnete ihm persönliche Feindschaft. Trotz Hass, Vorurteil und Gewalt hätte sich die Bevölkerung in der islamischen Welt, hätten sich »jene, die unter Beschuss lagen und deren Stimme von Gebrüll und Gewehrfeuer so oft erstickt wurde, ... von den Radikalen nicht vereinnahmen lassen«.

Jason Burke: Reise nach Kandahar. Unterwegs in den Krisengebieten der islamischen Welt. Patmos, Düsseldorf 2007. 319 S., geb., 24,90 EUR.

* Der Rezensent gehört der Initiative »Diplomats for Peace with the Islamic World« an.

Aus: Neues Deutschland, 8. Februar 2007



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