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Erschossen?

Zwischenfall: Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner will's wahrnehmen. Was die Bundeswehr in Afghanistan macht

Von Martin Krauß *

Am vergangenen Donnerstag (28. August) schossen Bundeswehrsoldaten in Afghanistan auf ein Auto, das an einem Kontrollposten nicht sofort anhielt. Zwei Kinder und ihre Mutter kamen dabei ums Leben. Kein Wort fand in der Beschreibung dessen, was an diesem Kontrollpunkt nahe Kundus passiert ist, so oft Verwendung wie das Wort "Zwischenfall". Es umschreibt eine Episode, die nicht zum normalen Geschäft gehört, sondern sich quasi dazwischen drängelt, den alltäglichen und im Grunde zivilen Ablauf stört.

Es gehört, sollte man aus der inflationären Verwendung des Wortes "Zwischenfall" folgern, nicht zur Normalität eines Krieges, dass dort geschossen wird. Niemand der deutschen Kommentatoren rechnet offensichtlich damit, dass mit Maschinenpistolen ausgerüstete Soldaten, die einen militärisch bedeutenden Kontrollpunkt bewachen, schießen und also töten könnten. Das hört sich dann etwa so an: Als man noch kaum etwas über den "Zwischenfall" wusste, da textete die Frankfurter Rundschau schon, die Bundeswehr habe nun "ihre Unschuld verloren" und fügte hinzu, es sei mehr kaputtgegangen, "als hundert Bitten um Entschuldigung kitten können - und mehr Sicherheit verloren, als tausend neue Panzerfahrzeuge kompensieren könnten." Was, muss man fragen, würden denn die gelieferten tausend Panzer machen? Am Kontrollpunkt herumstehen und afghanischen Zivilautos die Parkplätze wegnehmen?

Was also macht die Bundeswehr in Afghanistan? Islamistische Taliban führen einen Krieg gegen die Regierungstruppen und stehen für antiwestliche, antihumane, antizivilisatorische Politik - mit Geiselnahmen, mit Selbstmordattentaten und anderem Terror versuchen sie, das Land wieder in Besitz zu nehmen. Damit das aufhört, sind Nato-Truppen nach Afghanistan in den Krieg gezogen, heißt es in der offiziellen Meinung jener Nato-Truppen.

Bei der Bundeswehr nun aber, die in diesen Krieg gezogen ist, wird immerfort so getan, als handele es sich bei ihr um eine Art Technisches Hilfswerk. Das irritiert: Da werden mit modernstem Kriegsgerät ausgestattete Soldaten stationiert, und in der Heimat ist nur zu lesen, dass sie Brunnen bohren, Schulen bauen, und dass die einheimische Bevölkerung sich darüber freut, wenn Bundeswehrsoldaten ihr hinter dem Panzerglas des Jeeps mal zuwinken.

Propaganda könnte man das nennen, und die Bezeichnung ist gewiss nicht ganz falsch. Wer die Pressebetreuung kennt, die die Bundeswehr deutschen Journalisten zukommen lässt, der fragt sich, woher hiesige Medien während des letzten Golfkriegs die Chuzpe genommen haben, über die US-Praxis des embedded journalism zu schimpfen.

Doch die Diagnose, hier werde bloß Propaganda betrieben, greift zu kurz. Redlicherweise muss man nämlich auch erklären, warum die Propaganda wirkt. Schließlich hat es hierzulande, von einer schwachen Friedensbewegung und der Linkspartei abgesehen, keine nennenswerte Opposition gegen das Afghanistan-Engagement der Bundeswehr gegeben.

Die Bundeswehr, so lautet die Antwort, wird gar nicht als Armee wahrgenommen. Sie ist in der öffentlichen Betrachtung etwas merkwürdig Unvertrautes, einem Großstadtbewohner noch fremder als eine dörfliche freiwillige Feuerwehr. Die allgemeine Wehrpflicht scheint nur mehr auf dem Papier zu existieren, wer überhaupt eingezogen werden soll, entscheidet sich für den Zivildienst. Und wer doch zur Bundeswehr geht, der wählt damit zuerst die Option auf einen Arbeitsplatz, der durch länger laufende Verträge besser gesichert ist, als es andere Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen garantieren.

Einen staatspolitischen Sinn, der sich etwa aus der Notwendigkeit einer Landesverteidigung ergäbe, mag der Bundeswehr in der deutschen Öffentlichkeit niemand seriös unterstellen. Die zentrale Leistung deutscher Militärs in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bestand darin, mit größenwahnsinniger Rhetorik Kriege zu verlieren. In der zweiten Hälfte und bis heute anhaltend, besteht ihre Qualifikation darin, unnötig in der Gegend herumzustehen, viel Steuergeld zu verschwenden und für diese Tätigkeit sehr gefährliches Gerät anvertraut zu bekommen.

Vielleicht ist es da kein Zufall, dass eine etwas schärfere Kritik an der Bundeswehr nicht aus dem Westen Deutschlands formuliert wird, etwa aus den Reihen der linken Grünen oder linken Sozialdemokraten, sondern eher aus dem Teil der Linkspartei, der früher PDS war, aus dem Osten also. Im Westen hat man sich über die Jahrzehnte an die Ungefährlichkeit und Überflüssigkeit der Bundeswehr gewöhnt. Wenn es Militär- oder Imperialismuskritik gab, so erledigte man das, beinahe im Affekt, am liebsten am Beispiel der US-Streitkräfte. Dieser diskursive Schongang für die Bundeswehr erklärt auch, warum zuerst der Begriff "Zwischenfall" fällt, wenn beschrieben werden soll, dass im Krieg tatsächlich geschossen wird.

Nach den tödlichen Schüssen auf eine afghanische Familie war zu lesen, die deutschen Soldaten haben ihr Regelbuch nicht gekannt: nicht sie, sondern die von ihnen begleiteten afghanischen Soldaten hätten schießen dürfen. Und es wurde berichtet, es seien unerfahrene Wehrdienstleistende gewesen, die die tödlichen Schüsse abgaben. Das möchte man, solange der, sagen wir das Wort doch auch, "Zwischenfall" noch untersucht wird, gar nicht in Abrede stellen - es kann ja sein. Doch die Botschaft, die von solchen Meldungen ausgeht, ist bemerkenswert: Unsere Jungs dürfen nix, können nix, aber sie führen Maschinenpistolen mit sich.

Diese Form der Propaganda hat durchaus Vorteile. Der Vorteil für die Bundeswehr liegt darin, dass sie eher unterschätzt wird. Weder sie selbst noch ihre teilweise von Reichswehr und Wehrmacht geprägte Traditionspflege verleihen ihr ein martialisches, waffenstarrendes Antlitz. Vor dieser Armee hat keiner Schiss. Und diese Armee kann man eben in einen Krieg schicken, ohne dass jemand auf die Idee käme, es ginge dabei auch ums Kämpfen, Schießen, Töten.

Der Vorteil für die Welt außerhalb der Kaserne liegt darin, dass äußere Insignien einer Militarisierung der Gesellschaft kaum erkennbar sind: Es gibt keine Militärparaden, keinen Wehrkundeunterricht und vergleichsweise wenig öffentliche Vereidigungen. Es werden nicht mehr ganze Generationen junger Männer aufs Marschieren, Männchenmachen und Bettenbauen dressiert.

Zugleich hat diese Art der öffentlichen Wahrnehmung der Bundeswehr ihre Nachteile - und zwar in dem Moment, in dem sie im Krieg ist. Die Bombenabwürfe auf Belgrad Ende der neunziger Jahre, befehligt von einer rot-grünen Bundesregierung, ließen sich von der deutschen Öffentlichkeit als Kriegstaten deutscher Soldaten, also unserer Jungs, verdrängen durch die abstrakte Virtualität der Kriegsführung, die einem Computerspiel ähnlicher zu sein schien als den Vorstellungen vom Feldzug.

Doch nun steht die Bundeswehr im Staub eines fremden Landes, und die Einschläge des realen Krieges kommen näher. Wenn sich, wie in den letzten Wochen, die Angriffe auf die Bundeswehr häufen, obwohl die doch so wacker dabei ist, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen - wenn also vermehrt tote deutsche Soldaten im Zinksarg zurückkommen vom Auslandseinsatz, dann wird sich bald nicht nur die Frage stellen, ob Verteidigungsminister Franz Josef Jung auch wirklich jedem von ihnen persönlich das letzte Geleit geben kann. Dann wird dieses Land sein Verhältnis zur Bundeswehr und den Kriegen, die sie führt, neu und vor allem deutlich definieren müssen. Dann muss nicht nur den Soldaten vor Ort, sondern auch denen in Deutschland, ihren Familien und also der gesamten Gesellschaft, in der momentan die beruhigende Rhetorik vom "Zwischenfall" regiert, vermittelt werden, dass deutsche Soldaten mit ihren Panzern und Maschinenpistolen wirklich im Krieg sind. Und dass es sich bei der Bundeswehr erstaunlicherweise nicht um eine Art republikweites Jugendamt handelt, das für arbeitslose Jungerwachsene Erlebnispädagogik anbietet. Denn wenn künftig jede Woche von drei bis vier bis zwölf "Zwischenfällen" aus Afghanistan berichtet werden sollte, wird das dafür sorgen, dass der Bundeswehr ihre bisherige öffentliche Legitimation verloren geht, das Brunnenbohren und Schulebauen, die sie für den Einsatz aber braucht. Man müsste der deutschen Öffentlichkeit vermutlich erklären, dass das Brunnenbohren nicht der primäre Anwesenheitszweck in Afghanistan ist.

Damit würde man auf Peter Struck zurückgreifen, der als Verteidigungsminister einer rot-grünen Koalition im Jahr 2002 erklärt hat, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Dass dieser Satz so lächerlich und unglaubwürdig wirkt, liegt nicht nur an dem politischen Diskurs, den er eröffnet. Es liegt vor allem an der Einsamkeit, in der steht: In der Öffentlichkeit kursieren keine nennenswerten anderen Vorstellungen und Bilder über das, was die Bundeswehr im Krieg in Afghanistan eigentlich tut.

* Aus: Freitag 35, 5. September 2008


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