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Ein Jahr nach der irrtümlichen Tötung von sechs afghanischen Soldaten durch die Bundeswehr – Ende der rechtlichen Prüfung weiterhin nicht in Sicht

Ein Beitrag aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):

Zunächst zu einem Zwischenfall in Afghanistan, der mehr als ein Jahr zurückliegt. Am Karfreitag wurden drei Bundeswehr-Soldaten während eines längeren Gefechts mit Aufständischen getötet. Weniger bekannt ist, dass an diesem Tag auch sechs afghanische Soldaten umgekommen sind, und zwar durch einen sogenannten Friendly fire-Zwischenfall. Das heißt, die Afghanen wurden irrtümlich von Bundeswehr-Soldaten erschossen. Ermittlungen der Bundeswehr haben ergeben, dass den deutschen Soldaten kein Vorwurf zu machen ist. Es heißt, die Afghanen hätten nicht auf Anruf- und Warnsignale reagiert, ihre Fahrzeuge seien zudem nicht wie vereinbart gekennzeichnet gewesen. Der Fall war aus Sicht der Bundeswehr daher auch schnell abgeschlossen. Da in Afghanistan aber kriegsähnliche Verhältnisse herrschen, ist damals auch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eingeschaltet worden. Und diese prüft den Vorfall nun schon seit mehr als einem Jahr. Die Behörde muss entscheiden, ob sie ggf. Ermittlungen einleitet. Erst dann können unter anderem Zeugen vernommen oder afghanischen Stellen kontaktiert werden.

Nicht nur für die betroffenen Soldaten ist unverständlich, warum das ganze Verfahren inzwischen so lange dauert. Auch Politiker wie der Bundestags-Abgeordnete Jörg van Essen, früher selbst Staatsanwalt, wundern sich. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion warnt zwar davor, von außen Ratschläge zu geben, sagt aber auch:

O-Ton van Essen
„Trotzdem habe ich die herzliche Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, zu einer Entscheidung zu kommen. Denn über ein Jahr ist eine unglaublich lange Zeit.“

Das sieht Paul Schäfer von der Linkspartei ähnlich. Für den Verteidigungsexperten gibt es aber durchaus noch offene Fragen:

O-Ton Schäfer
„Da ist zum Beispiel die Frage, ob in diesen Pickup, in dem die afghanischen Soldaten getötet wurden, auch von der Seite geschossen wurde, oder nur frontal. Da gibt es Einschläge an Strommasten, wo nicht klar ist, wer hat sie verursacht. Und da gibt es die Frage: Hat die Bundeswehr direkt eine Einschätzung, ein so genanntes Battle damage assessment, gemacht? Hat sie genauer festgestellt und geprüft, ob also dort am Tatort oder im Umfeld verletzte afghanische Soldaten waren, denen man eventuell hätte helfen müssen. Also einer hatte sich ja unter dieses eine Fahrzeug verkrochen, offensichtlich ein schwer Verwundeter.“

Widersprüchlich sind offenbar auch die Angaben, wann die Afghanen sich bei der ISAF-Operationszentrale angemeldet haben und warum die deutschen Soldaten davon keine Kenntnis hatten.

Die Generalbundesanwaltschaft prüft also schon seit mehr als einem Jahr. Möglicherweise auch, weil sie sich auf juristischem Neuland bewegt. Der FDP-Politiker und Reserveoffizier Jörg van Essen:

O-Ton van Essen
„Wir brauchen natürlich auch eine Ertüchtigung des Generalbundeanwalts, der sehen muss, dass er Ermittlungen in diesem Bereich in Zukunft häufiger führen wird. Denn alles das was wir sehen, sieht ja sehr deutlich die Bundeswehr weiter in Einsätzen dieser Art. Und die Justiz muss einfach einsatzfest gemacht werden. Sie muss einsatzfest gemacht werden insofern, als sie die besonderen Anforderungen, den die Soldaten im Auslandseinsatz ausgesetzt sind, kennt.“

Auch Paul Schäfer von der Linkspartei hält die gegenwärtige Situation für schwer erträglich:

O-Ton Schäfer
„Das ist eine Belastung für die Soldaten. Deshalb muss man sich vor allem Gedanken machen, wie man dieses Verfahren dadurch beschleunigt, dass also Ermittlungen zügiger vorankommen. Und dann muss man sicherlich über personelle Kapazitäten nachdenken.“

Eine Verfahrensbeschleunigung erhofft sich der FDP-Abgeordnete van Essen schon seit geraumer Zeit von der Bildung einer sogenannten Schwerpunktstaatsanwaltschaft, also einer Anklagebehörde, die in Fragen der Bundeswehr besonders sachkundig ist. Kritiker sehen dadurch aber die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet. Der verteidigungspolitische Sprecher der Linken, Paul Schäfer:

O-Ton Schäfer
„Diese Einrichtung einer Sonderstaatsanwaltschaft lehnen wir entschieden ab. Die wäre ja von der Konstruktion eine sehr, sagen wir mal, militärnahe Behörde. Und das kann es nicht sein. Gerade an dieser sensiblen Stelle brauchen wir eine absolute Unabhängigkeit der Justiz. Und das wird dadurch unterhöhlt oder droht ausgehöhlt zu werden, durch die Einrichtung einer solchen Sonderstaatsanwaltschaft.“

Diese Bedenken hält der FDP-Politiker van Essen jedoch für unbegründet:

O-Ton van Essen
„Wir haben in der Staatsanwaltschaft viele Beispiele dafür, dass wir Spezialzuständigkeiten haben, beispielsweise Wirtschaftskriminalität. Es zeigt sich, dass die Kollegen, die sich dann in der Wirtschaft besonders auskennen, dass diese Kollegen sehr große Erfolge bei den Ermittlungen haben, und nicht wirtschaftsfreundlich entscheiden, sondern - wie sich das für die Tradition der deutschen Justiz auch gehört - objektiv entscheiden. Und daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir Spezialisten haben, die aber die Besonderheiten des soldatischen Dienstes kennen.“

Für bewaffnete Konflikte wie in Afghanistan ist allerdings allein die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe zuständig. Mit ihrem Referat Völkerstrafrecht verfügt sie bereits über so etwas wie eine eigene Schwerpunktstaatsanwaltschaft. Ihr werden allerdings inzwischen immer mehr Fälle zur Prüfung vorlegt. Eine Entscheidung, ob wegen der irrtümlichen Erschießung der sechs afghanischen Soldaten Ermittlungen eingeleitet werden, ist daher nach wie vor nicht absehbar. Die Folge: Weiterhin große Ungewissheit für die betroffenen Bundeswehr-Soldaten.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 9. April 2011; www.ndrinfo.de


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