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Bundeswehr bleibt an der Afghanistan-Front

Verbündete ziehen ab, Deutschland steht zum "Mittelweg" - was will Westerwelle?

Von René Heilig *

»Problem Afghanistan« - es bleibt Deutschland über den Regierungswechsel erhalten. Im Auswärtigen Amt zweifelt man dem Vernehmen nach daran, dass der künftige Chef des Hauses - Guido Westerwelle (FDP) - das »Problem Afghanistan« aus dem Verteidigungsministerium ab- und auf eine politische Ebene ziehen kann.

Die Verbündeten suchen nach acht weitgehend erfolglosen Jahren das Weite. Die Niederlande haben den Herbst 2010 als Abzugstermin für ihr 1400-Soldaten-Korps genannt, der viertgrößte Truppensteller Kanada will spätesten 2011 Abschied vom Hindukusch nehmen, Japan kündigte die Gefolgschaft bei der US-Operation »Enduring Freedom«. Australien hat konkrete Abzugspläne. Dass Soldatenfrauen in Großbritannien gebeten werden, keine Weihnachtspakete zu schicken, kann (noch) nicht als Rückzugssignal gewertete werden.

Unter diesen Umständen kann man sich vorstellen, wie es auf der traditionellen Truppenstellenkonferenz der NATO, die am vergangenen Wochenende stattgefunden hat, zugegangen ist. General Stanley McChrystal, der Oberbefehlshaber aller westlichen Truppen in Afghanistan, fordert weiter mehr Soldaten, damit die Situation nicht weiter kippt. Er will die Truppenstärke auf 100 000 erhöhen und fordert von NATO-Verbündeten effektiv 10 000 Mann mehr.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 19. bis 25. Oktober in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Vor dem Dezember wird der Bundestag über eine Mandatsänderung zu befinden haben. Militärs fürchten, dass die USA eine Erhöhung der derzeitigen Bundeswehrstärke von 4220 Soldaten auf 7000 verlangen. »Womöglich wird die neue Regierung das Ansinnen auf 6000 Mann herunter handeln«, sagt der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion. Doch Paul Schäfer zitiert dazu einen Spruch des deutschen Barock-Dichters Friedrich von Logau: »In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.« Schäfer plädiert für einen raschen und politisch klugen Abzug auch der deutschen Soldaten.

Damit ist er auf einer ähnlichen Position wie der deutsche Top-Diplomat Wolfgang Ischinger - unter anderem einst Botschafter in Washington und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Er ist öffentlich dafür, alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, »den Einsatz so früh wie möglich zu beenden«. Ähnliches rät der einstige UNO-Sonderbeauftragte Tom Koe-nigs. Er ist gegenüber »Spiegel online« der Meinung, dass »man mit der neuen afghanischen Regierung einen sehr konkreten Aufbau- und Abzugsplan verhandeln muss«.

Afghanische Regierung? Schäfer zweifelt daran, dass die nun notwendige Stichwahl einer künftigen Regierung mehr Autorität verleiht. Konsequenz: Man müsste mit allen maßgebenden Kreisen in Afghanistan verhandeln. Und Deutschland, das nach der Taliban-Entmachtung 2001 einen Stufenplan zur Machtübergabe an eine demokratisch-legitimierte Regierung entwickeln half, könnte wiederum zu einer Konferenz auf den Petersberg bei Bonn einladen. Vorerst lädt Deutschland andere Gäste ein. So die Task-Force 373 der US-Special Forces in das deutsche Feldlager Masar-i-Scharif. Ähnliche speziell zur Terroristen-Jagd zusammengestellte US-Trupps gibt es in allen afghanischen Verteidigungssektoren. Sie unterstehen nicht dem ISAF-Kommando.

Wie viele US-Elitesoldaten zu TF 373 gehören, welche Aufgaben sie haben, wissen die Abgeordneten des Bundestages nicht. Wahlkampf und Konstituierungsverhandlungen haben das Parlament lahmgelegt. Die letzte ordentliche Unterrichtung durch das Jung-Ministerium fand vor der Sommerpause statt. So wissen die zur Kontrolle verpflichteten Abgeordneten auch nicht, was das Kommando Spezialkräfte in Afghanistan treibt, wenn dessen Soldaten mitten in der Nacht in Dörfer und »nach Liste« in Häuser eindringen, um für den afghanischen Geheimdienst Gefangene zu machen.

Westerwelle hätte als Außenminister durchaus Möglichkeit, sich ähnliches Lob zu verdienen wie sein liberaler Vorgänger Hans-Dietrich Genscher.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009


Keine Konzepte und klamme Kassen

Afghanistan-Desaster bestimmt auch die Tagung der NATO-Verteidigungsminister in Bratislava

Von Olaf Standke **


Schon einen Tag nach dem Verzicht von USA-Präsident Obama auf die umstrittenen Raketenabwehranlagen in Polen und Tschechien schlug die NATO Moskau eine neue Zusammenarbeit in Europa vor. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen brachte sogar eine Verbindung von Raketenabwehrsystemen der Allianz, der USA und Russlands ins Gespräch. Man muss eben flexibel sein. Noch auf dem NATO-Gipfel im Jahr 2008 in Bukarest hatten die europäischen Mitgliedstaaten Washingtons Pläne als »wesentlichen Beitrag zum Schutz der Verbündeten« begrüßt.

Dabei fehlte es nicht an Kritik in den eigenen Reihen, etwa in Deutschland oder Frankreich. Auch der Auswärtige Ausschuss des britischen Unterhauses warnte, dass das Vorhaben angesichts des Widerstands Russlands den Interessen des Nordatlantikpaktes stark schaden könnte. Selbst Polen hatte seine Bereitschaft, exklusiv eine US-amerikanische Raketenbasis aufzunehmen, immer mit dem Plädoyer für einen NATO-Raketenschild verbunden. Das Bündnis ließ schon Mitte der 1990er Jahre konkrete Pläne für ein solches see- und landbasiertes Abwehrsystem für Europa ausarbeiten, über das Stadium der Studien ist es allerdings bisher kaum hinausgekommen. Das dürfte sich auch nicht so schnell ändern.

Wenn sich die Verteidigungsminister der Allianz am Donnerstag und Freitag in der slowakischen Hauptstadt Bratislava treffen, wollen sie nicht zuletzt übers Sparen reden. Dem größten Militärbündnis der Welt geht langsam das Geld aus, die Löcher in den Kassen sind so groß wie nie seit NATO-Gründung vor sechs Jahrzehnten. Die neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Mitteleuropa sehen schon die Erfüllung der Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des NATO-Vertrags gefährdet. Vor allem »die operationellen Anforderungen an das Militärbudget überschreiten dessen Möglichkeiten«, wie es Allianz-Sprecher James Appathurai formulierte. Einst musste aus dem Etat nur der Betrieb des Bündnisses selbst beglichen werden, die Kosten für Militäreinsatze trugen die Mitgliedstaaten. Seit 2005 aber werden auch die Aufwendungen für die AWACS-Aufklärungsflugzeuge, Lazarette in Afghanistan oder den Lufttransport von Soldaten aus dem NATO-Haushalt bezahlt.

Zudem ist der Pakt derzeit vor allem auf Afghanistan fokussiert. Auch in Bratislava sind heftige Debatten programmiert. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat seine Forderung nach einem Strategiewechsel am Hindukusch bekräftigt. Grundlage müssten die Vorschläge des Oberbefehlshabers der US- und NATO-Truppen, General Stanley McChrystal, sein. Notwendig sei eine »allgemeine Übereinkunft« über die Strategie. Über eine Truppenerhöhung könne erst gesprochen werden, wenn in Afghanistan Klarheit über die künftige Regierung herrsche. Gerade hat der NATO-Kommandeur für Südafghanistan, der niederländische ISAF-General Mart de Kruif, eine Aufstockung um mindestens zwei Kampfbrigaden sowie unterstützende Einheiten verlangt, das sind 10 000 bis 15 000 Soldaten. Viel Gegenliebe findet er bei den meisten Bündnispartnern nicht. Von einer Ausstiegsstrategie aber redet in der Allianz auch niemand.

In Washington zögert man ebenfalls mit Entscheidungen. Vor allem die von McChrystal geforderte Entsendung von mindestens 40 000 zusätzlichen Soldaten ist umstritten. Auch die Fraktionsführung der Demokraten von Präsident Obama hat Widerstand gegen solche Pläne signalisiert, so lange man nicht sicher sein könne, dass die Regierung in Kabul »lebensfähig« und dazu in der Lage sei, »Vertrauen bei ihrem eigenen Volk zu schaffen«. Fogh Rasmussen hat die angekündigte Stichwahl für das Präsidentenamt begrüßt. Nun müssten »die nötigen Schritte getan« werden, um sicherzustellen, dass am 7. November »ein höherer Standard als in der ersten Wahlrunde erreicht« werde. Die NATO wolle alles tun, um Sicherheit beim nächsten Wahlgang zu garantieren.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009


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