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"Es gibt keinen Grund zum Optimismus"

Europaabgeordneter André Brie sieht nur marginale Änderungen an US-Kurs in Afghanistan

Der Europaabgeordnete der LINKEN André Brie ist Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments und hat das Land am Hindukusch wiederholt besucht. In der vergangenen Woche nahm er als Vertreter des EU-Parlaments an der internationalen Afghanistan-Konferenz in Den Haag teil. Über die Situation im Land und den Kurs des neuen US-Präsidenten Barack Obama sprach mit ihm in Brüssel Uwe Sattler. - Wir dokumentieren im Folgenden das Interview, das im "Neuen Deutschland" (ND) erschien.



ND: Die Strategie Barack Obamas gegenüber Afghanistan scheint widersprüchlich. Einerseits fordert er eine Verstärkung des militärischen Vorgehens, andererseits soll über Exitstrategien nachgedacht werden.

Brie: Der Kurs ist tatsächlich widersprüchlich. Er ist einerseits die Fortsetzung des bekannten militärischen Vorgehens, andererseits gibt es durchaus neue Elemente, die allerdings nur die fehlgeschlagene Kriegsstrategie ergänzen. Dazu gehören beispielsweise die stärkere finanzielle Unterstützung des zivilen und wirtschaftlichen Aufbaus – obgleich es fraglich ist, ob dies angesichts der gegenwärtigen Krise Realität wird – und die Ausdehnung der Strategie auf die Nachbarländer, insbesondere Pakistan. Das ist zwar grundsätzlich richtig. Es wird aber zur Katastrophe führen, wenn in Pakistan, vor allem in den Stammesgebieten, die gleichen militärischen Mittel wie in Afghanistan angewendet würden. Skeptisch sehe ich die Ausdehnung auf Pakistan auch, weil die USA in der Vergangenheit schon Militärmachthaber Musharaff massiv unterstützt haben, ohne eine Stabilisierung des Landes zu erreichen. Es steht zu befürchten, dass mit der neuen Regierung in Islamabad abermals ein korruptes Regime an der Macht gehalten wird, dem die Akzeptanz der Bevölkerung insbesondere in den Stammesgebieten fehlt.

Offensichtlich setzt Obama aber auf eine forcierte »Afghanisierung«, also eine Stärkung des Staatswesens.

Auch das ist ein neues Element. Doch geht es dabei einseitig um die Stärkung der afghanischen Polizei, der Streitkräfte und der staatlichen Institutionen. Das ist zwar notwendig. Angesichts des Zustandes Afghanistans, seiner Regierung und Verwaltung würde mehr Geld jedoch auch mehr Korruption bedeuten. Ebenso ist es sehr fraglich, ob die angestrebte Regionalisierung der Hilfe angesichts der Herrschaft von Warlords und Drogenbaronen in den Provinzen nicht gerade deren Herrschaft verfestigen wird.

Ging es um diese Fragen auch auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in Den Haag?

Die Konferenz war in erster Linie eine Initiative der USA, um sich ihre neue Strategie absegnen zu lassen, sie hatte symbolische Bedeutung. Dementsprechend waren auch die Ergebnisse, die sich im wesentlichen auf eine Beschönigung der gegenwärtigen Situation beschränkten. Notwendig wäre aber eine ernsthafte Debatte über das internationale Vorgehen in Afghanistan.

Diese wäre auch angesichts der für den Sommer geplanten Wahlen wichtig. Die USA haben erst kürzlich 40 Millionen Dollar für die Durchführung der Abstimmung zugesagt.

Das Geld ist notwendig, aber es garantiert keine demokratische und faire Abstimmung. Die Hauptprobleme sind die fehlende Sicherheit in Afghanistan sowie der katastrophale Zustand des Rechtssystems und der Polizei, die zu den korruptesten Institutionen in Afghanistan gehört. Bei den Bestrebungen der USA und anderer Staaten zur Stärkung der Polizei geht es allerdings nicht um den Ausbau des Rechtsstaats, sondern um den Aufbau einer paramilitärischen Truppe und deren Nutzung für die Besatzer.

Ist die Situation in Afghanistan völlig verfahren?

Es dominiert leider immer noch ein beschönigtes Bild von der Lage in Afghanistan – zumindest in der öffentlichen Darstellung. Auch angesichts der »neuen« US-Strategie gibt es keinerlei Grund zu Optimismus. Eine Chance, Afghanistan zu stabilisieren, gibt es nur mit einem umfassenden Aussöhnungsprozess, der mehr sein muss als ein prinzipienloses Zugehen auf die sogenannten gemäßigten Taliban. Grundlage dafür muss die afghanische Verfassung sein, die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, die Gewährleistung der Menschenrechte, insbesondere für Frauen und Mädchen, und eine wirkungsvolle Unterstützung des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus. Dazu sind auch die gemäßigten Taliban nicht bereit.

Wer sollen die gemäßigten Taliban überhaupt sein?

Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen den Taliban-Gruppen: Ein Teil unterstützt auch offiziell das Terrornetzwerk Al Quaida und arbeitet eng mit ihm zusammen, ein anderer Teil hat in erster Linie das Ende der Okkupation im Blick und will sich von den Terroristen nicht missbrauchen lassen.

Die Besatzung stärkt aber offensichtlich beide Flügel der Taliban.

Daher ist die Abkehr von der Kriegsstrategie in Afghanistan unabdingbar. Dazu muss eine massive Anhebung der zivilen, sozialen und wirtschaftlichen Unterstützung für das Land kommen. Auch die wirkliche »Afghanisierung« muss vorangetrieben werden – aber nicht primär auf die Militär- und Sicherheitsstrukturen gerichtet, sondern konzentriert auf das Funktionieren sowohl der Zentralregierung als auch der Provinz- und Distriktverwaltungen. Und natürlich müssen alle internationalen Akteure, darunter auch Iran, in diesen Prozess einbezogen werden. Nur so hat Afghanistan eine Chance.

* Aus: Neues Deutschland, 11. April 2009


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