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"Es gibt keine militärische Lösung für Afghanistan"

EU-Parlament: Auswärtiger Ausschuss will "Nachbesserungen" am Bericht von André Brie / Abstimmung vertagt: Kritischer Bericht wird erneut beraten

Am Dienstag (3. Juni) sollte der Auswärtige Ausschuss des Europaparlaments über den Bericht »Stabilisierung Afghanistans -- Herausforderungen für die EU und die internationale Gemeinschaft« abstimmen. Der Autor, der Abgeordnete der LINKEN André Brie, fordert eine grundlegende Umorientierung auf die zivile Unterstützung Afghanistans und den Aufbau handlungsfähiger staatlicher Strukturen sowie die sofortige Beendigung der Operation Enduring Freedom. Kurz vor der Sitzung wurde die Abstimmung jedoch wegen zahlreicher Änderungsanträge vertagt. Mit dem Berichterstatter sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Uwe Sattler.



ND: Sie haben kürzlich erneut Afghanistan besucht. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Brie: Es gibt einige Verbesserungen, die man zur Kenntnis nehmen muss. Das betrifft insbesondere den Gesundheitsbereich und vor allem die Bekämpfung der Kindersterblichkeit, die um ein Fünftel zurückgegangen ist. In einigen Teilen des Landes gibt es gute Entwicklungen im Bildungsbereich, allerdings nicht im Süden und Osten. Positiv zu vermerken ist auch, dass es - wenngleich eingeschränkt - erstmals seit Jahrzehnten unabhängige, kritische Medien gibt. Diese stehen unter großem Druck, können sich aber behaupten.

Andererseits hat sich die Sicherheitssituation in den vergangenen drei Jahren deutlich verschlechtert, der Opiumanbau verharrt auf Rekordniveau und prägt Politik und Wirtschaft, die staatlichen Strukturen sind weiterhin schwach. Zudem grassiert die Korruption auf allen Ebenen, von der Regierung bis zur Polizei vor Ort.

Auf welche Quellen stützen Sie sich neben eigenen Erkenntnissen?

Natürlich sind die persönlichen Eindrücke und die Kontakte im Land, zur Bevölkerung, zu kritischen Intellektuellen und Journalisten, zu afghanischen Nichtregierungsorganisationen von zentraler Bedeutung. Sehr wichtig für mich sind auch die Einschätzungen der internationalen Afghanistan-Hilfsorganisationen. Daneben gibt es fundierte UN-Analysen, beispielsweise zur Drogenproblematik.

Gibt es auch Informationen von der NATO oder dem Militär?

Ich habe mehrfach die ISAF besucht und auch mit Angehörigen der regionalen Wiederaufbauteams gesprochen. Allerdings sind diese Informationen zumeist sehr propagandistisch. Deutlich seriöser sind dagegen die Einschätzungen der EUPOL-Mission.

EUPOL soll deutlich verstärkt werden. Eine richtiger Schritt?

Wenn man will, dass Afghanistan endlich auf eigenen Füßen steht, ist es dringend notwendig, die afghanischen Institutionen und die staatliche Verwaltung handlungsfähig zu machen. Das größte Problem ist die Polizei, die nicht nur korrupt ist, sondern auch nicht in der Lage, polizeiliche Aufgaben zu erfüllen. Die US-Amerikaner bilden in Schnellkursen paramilitärische Einheiten aus, die dazu noch von Taliban, Al Qaida und mafiösen Gruppen unterwandert sind. Neben der Schaffung von Institutionen im Zivilbereich sind der überfällige Aufbau von Polizei und Justiz Schlüsselaufgaben in Afghanistan, um Stabilität zu erreichen.

EUPOL soll mit den Militärmissionen kooperieren. Droht so die Vereinnahmung durch die USA?

Diese Gefahr betrifft die gesamte europäische Politik gegenüber Afghanistan. Es ist ihr eigentliches Manko, dass sie sich nicht von Washington emanzipiert und immer wieder bereit ist, sich den Amerikanern unterzuordnen. Obwohl jeder in Europa weiß, dass der US-Kurs gescheitert ist. Zudem haben wir in Afghanistan sehr viele Akteure, aber außer der Dominanz der USA keine Koordinierung. Hier herrscht Handlungsbedarf.

Geht Ihr Bericht auch auf die militärischen Operationen ein?

Für mich sind zentrale Forderungen die sofortige Beendigung von Enduring Freedom, die Übertragung der politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Entscheidungskompetenzen an die afghanischen Institutionen sowie eine deutliche Verlagerung der Unterstützung von militärischen Mitteln hin zu zivilen. Nach wie vor fließen für jeden Euro in zivile Hilfe neun in den Militärbereich. Dringend ist auch die Entflechtung militärischer und ziviler Hilfe, insbesondere bei regionalen Wiederaufbauteams. Die Verflechtung ist eine wachsende Gefahr für Hilfsorganisationen.

Ist auch ein ISAF-Abzug nötig?

Natürlich. Es gibt keine militärische Lösung für Afghanistans Probleme. Als Berichterstatter des Parlaments muss ich jedoch erst einmal erreichen, dass zum einen überhaupt kritische und realistische Positionen, zum anderen die Interessen und Nöte der Afghaninnen und Afghanen artikuliert werden, die seit mehr als drei Jahrzehnten Spielball ausländischer Machtpolitik sind. Notwendig wäre, endlich über eine Exit-Strategie und die Bedingungen afghanischer Selbstentscheidung nachzudenken, auf deren Grundlage sobald wie möglich ein Abzug aller ausländischen Truppen erfolgen sollte.

Wie entsteht überhaupt ein Bericht im Europaparlament?

In diesem Fall haben mein Mitarbeiter und ich einen Entwurf erarbeitet, der mit Experten, internationalen Hilfsorganisationen und afghanischen Akteuren beraten wurde. Dann müssen Änderungsanträge und im Fall Afghanistans auch eine Stellungnahme des Entwicklungsausschusses berücksichtigt oder abgestimmt werden.

Ich versuche, im Ausschuss und in individuellen Gesprächen andere Abgeordnete davon zu überzeugen, dass eine grundlegend andere Strategie erforderlich ist, die das Augenmerk der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung auf den schwierigen zivilen und gesellschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans richtet. Aber wir wissen auch aus eigenen Diskussionen, dass gute Argumente und gesicherte Tatsachen nicht immer wirksam sind. Das größte Hindernis für eine neue und konstruktive Afghanistan-Strategie ist die europäische Devotheit gegenüber der USA-Politik.

Hintergrund - Missionen am Hindukusch

ISAF: Die Aufstellung der Internationalen Sicherheitsbeistands-Truppe (International Security Assistance Force) wurde am 20. Dezember 2001 vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen. Offizielle Aufgabe der ISAF ist die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der »Wahrung der Menschenrechte sowie bei der Herstellung und Wahrung der inneren Sicherheit« und bei der Auslieferung von Hilfsgütern. ISAF ist autorisiert, »alle erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt zu ergreifen, um den Auftrag gemäß Resolution des Sicherheitsrates durchzusetzen«. Im Dezember 2001 stimmte der Bundestag für die Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Einsatz. Mit 3500 von insgesamt etwa 47 000 Soldaten ist Deutschland drittgrößter Truppensteller innerhalb der NATO-geführten ISAF.

Enduring Freedom: Die zumindest offiziell von ISAF getrennte Operation Enduring Freedom (OEF) begann im Oktober 2001 und soll »Terroristen« bekämpfen, deren Führungs- und Ausbildungseinrichtungen vernichten und »Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abhalten«. Auch an der von den USA geführten OEF sind deutsche Einheiten beteiligt. Die Operation beschränkt sich auf die Bekämpfung mutmaßlicher oder tatsächlicher Terroristen ausschließlich mit militärischen Aktionen, durch deren große Zahl und Stärke häufig Zivilisten verletzt und getötet werden.

EUPOL: Die europäische Polizeimission in Afghanistan (European Union Police Mission in Afghanistan) läuft erst seit Juni 2007. Sie geht auf eine Bitte Kabuls zurück und soll den Aufbau tragfähiger und effektiver Polizeistrukturen unter afghanischer Eigenverantwortung unterstützen. Geleitet wird EUPOL Afghanistan von dem deutschen Brigadegeneral Jürgen Scholz. (sat)

Hannover-Kongress

Am 7. und 8. Juni findet in Hannover der Internationale Kongress »Dem Frieden eine Chance -- Truppen raus aus Afghanistan!« statt. Dabei soll über Alternativen zum Militäreinsatz beraten werden.

Für die Friedensbewegung ist der Kongress zugleich Startschuss für Aktionen im Herbst, wenn der Bundestag über Verlängerung und möglicherweise Ausweitung der Bundeswehr-einsätze in Afghanistan berät. Zu den Referenten gehören Vertreterinnen und Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft, der Friedensbewegung aus Europa und den USA sowie Wissenschaftler, Politiker und Gewerkschafter. Die Diskussionsthemen reichen von der Situation in Afghanistan über die internationale Dimension des Konfliktes bis zu Anforderungen an eine Außenpolitik des Friedens.

Informationen: www.afghanistan-kongress.de. Telefonisch bei: Reiner Braun (0172-2317475) und Peter Strutynski (0160-9762 8972)
(ND)



* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2008


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