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Schluß mit Bomben?

Afghanistans Präsident und die NATO versprechen, daß es keine Luftangriffe auf Dörfer und Häuser mehr geben soll

Von Knut Mellenthin *

In Afghanistan soll es künftig keine Luftangriffe auf bewohnte Gegenden und Häuser mehr geben. Das Versprechen ist im Grunde nicht neu, sondern wurde vor dem Hintergrund von bekanntgewordenen Opfern unter der Zivilbevölkerung schon mehrmals gegeben. Präsident Hamid Karsai hat es am Sonnabend aber noch einmal ausdrücklich erneuert. In einer Rede an der Kabuler Militärakademie kündigte er ein Dekret an, das es den afghanischen Streitkräften generell untersagt, »unter irgendwelchen Umständen« Luftunterstützung der NATO für ihre Operationen anzufordern.

Ob die Anordnung bereits erlassen wurde und welchen genauen Inhalt sie hat, war bei Redaktionsschluß noch nicht bekannt. Ersten Meldungen zufolge hat General Joseph Dunford, der erst seit einer Woche das Kommando über alle NATO-Truppen in Afghanistan führt, auf Karsais Ankündigung zustimmend reagiert. Dunford, der bereits am Donnerstag eine Aussprache mit dem afghanischen Präsidenten hatte, will dessen Anweisungen respektieren. »Es gibt andere Wege, wie wir unsere afghanischen Partner unterstützen können, als den Einsatz der Luftwaffe«, sagte Dunford laut westlichen Nachrichtenagenturen am Sonntag. Die »technischen Aspekte« werde er in den nächsten Tagen mit dem Kabuler Verteidigungsministerium besprechen.

Anlaß der jüngsten Äußerungen Karsais war eine Attacke in der nordöstlichen Provinz Kunar in der Nacht zum Mittwoch. Nach leicht voneinander abweichenden Darstellungen örtlicher Behörden und Politiker wurden beim Luftangriff auf ein oder zwei Häuser eines abgelegenen Dorfes zehn Zivilisten getötet. Unter ihnen sollen fünf Jungen und vier Frauen oder Mädchen gewesen sein, die alle zu einer oder zwei Familien gehörten. Über den zehnten toten Zivilisten machen die meisten Medien keine Angaben. Einzelne Meldungen besagen jedoch, es habe sich um das »Familienoberhaupt«, also wahrscheinlich einen alten Mann, gehandelt.

Außerdem ist von drei oder vier getöteten »Taliban-Kämpfern« die Rede. In manchen Berichten wird unter Berufung auf afghanische Militär- oder Polizeikreise sogar von »drei Taliban-Kommandeuren« gesprochen, und auch die Behauptung, die Getöteten hätten »Verbindung zu Al-Qaida« gehabt, taucht routinemäßig auf. Es scheint also unter den »zivilen« Opfern, abgesehen von dem Alten, nicht einen einzigen erwachsenen Mann gegeben zu haben. Auch bei den fünf Verletzten soll es sich ausschließlich um Kinder gehandelt haben.

Das Rätsel ist leicht aufzuklären: Nicht nur Männer, sondern auch »waffenfähige« männliche Jugendliche werden, falls sie bei Militäroperationen getötet werden, von den afghanischen Stellen automatisch mindestens zu »Taliban-Kämpfern«, wenn nicht gar zu »Kommandeuren« erklärt. Wenn man hinzunimmt, daß das attackierte Dorf in einem von den Aufständischen beherrschten Gebiet liegt, ist der Fall klar.

Keineswegs klar ist hingegen, was für eine Operation stattgefunden hatte, bevor die Luftunterstützung angefordert wurde. Waren nur afghanische Kräfte beteiligt oder – wie es in einigen Berichten aufscheint – auch ausländische Truppen? Vom wem genau ging die Anforderung aus? Einige Meldungen zitierten Karsai mit der Aussage, die Initiative, Kampfflugzeuge zu Hilfe zu rufen, sei vom afghanischen Geheimdienst ausgegangen. Für alle diese Einzelheiten gibt es bisher keine genauen Informationen.

Vor zehn Tagen hatte ein Bericht des Kinderrechts-Ausschusses der UNO für Aufsehen gesorgt. Darin wurde beklagt, daß Hunderte von afghanischen Kindern in den Jahren 2008 bis 2012 bei Operationen und Luftangriffen der NATO-Truppen getötet worden seien. Als »besonders besorgniserregend« wurde die Tatsache bezeichnet, daß sich die Zahl der Opfer von 2010 auf 2011 verdoppelt habe. NATO-Sprecher wiesen den Report pauschal als »völlig unbegründet« zurück, ohne auf konkrete Vorwürfe einzugehen.

* Aus: junge welt, Montag, 18. Februar 2013


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