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Furcht vor Verbündeten

Afghanistan: NATO traut einheimischen Sicherheitskräften nicht mehr

Von Frank Brendle *

Wegen ständig zunehmender Angriffe aus den Reihen der afghanischen Sicherheitskräfte hat die NATO die Zusammenarbeit mit ihren Verbündeten weitgehend auf Eis gelegt. Damit fehlt eine als zentral betrachtete Voraussetzung für den kontrollierten Rückzug der westlichen Besatzer. Eigentlich sollten die afghanischen Truppen ab 2014 die Aufständischen aus eigener Kraft bekämpfen. Dafür werden sie von der NATO im Rahmen des sogenannten Partnerings ausgebildet und in Einsätzen angeleitet. Doch die Praxis erweist sich als anfällig: Letztes Jahr starben 35 ISAF-Angehörige durch Angriffe aus den Reihen der vermeintlichen Partner, dieses Jahr waren es bereits 51. Damit geht jeder siebte Todesfall bei den NATO-geführten Truppen auf das Konto afghanischer Soldaten oder Polizisten.

Vorige Woche entschied das ISAF-Kommando, die Zusammenarbeit mit den Afghanen drastisch zurückzufahren: Im Prinzip nur noch ab Bataillonsebene kooperiert werden. Gemeinsame Einsätze darunter, sprich mit Truppen von weniger als 800 Mann, gibt es nur noch mit Sondergenehmigungen durch hohe Kommandeure. Vor allem in amerikanischen und britischen Medien wird die Entscheidung als schwerwiegender Rückschlag für die NATO-Strategie interpretiert, weil die Ausbildung der niedrigeren Ränge unerläßlich ist, wenn die afghanischen Einheiten tatsächlich in die Fußstapfen ihrer westlichen »Partner« treten sollen. Das ISAF-Kommando ist bemüht, die Reichweite der Entscheidung herunterzuspielen. Es werde nur vorübergehend »das operationelle Tempo reduziert«, solange das muslimfeindliche Schmähvideo für eine erhöhte Gefährdungslage sorge.

Inwiefern die im Militärsprech »Insider Attacks« genannten Angriffe auf eine gezielte Infiltration durch Aufständische zurückzuführen sind – wie von den Taliban behauptet –, ist nicht klar. ISAF-Kommandeur John Allen hält ungefähr ein Viertel der Innentäter für getarnte Talibankämpfer. Die Bundesregierung hingegen wiegelt ab: In internen Unterlagen macht sie zuvorderst »interkulturelle Mißverständnisse, persönliche Beweggründe sowie posttraumatischen Streß« für die Anschläge verantwortlich.

Bereits Anfang des Monats wurde die Ausbildung der sogenannten Afghanischen Lokalen Polizei (ALP) gestoppt, einer milizähnlichen Formation, die komplett unter Obhut amerikanischer Spezialeinheiten steht. Ihre 16000 Angehörigen sollen jetzt erneut überprüft werden. Damals wurde noch versichert, das habe keinerlei Signalwirkung für die Zusammenarbeit mit den regulären Sicherheitskräften. Das Vertrauen ist aber schon länger erschüttert: Die Washington Post zitierte dieser Tage eine »Empfehlung« des ISAF-Kommandos an die NATO-Angehörigen, sich in Situationen, in denen sie besonders »verwundbar« seien, etwa beim Schlafen und Duschen, möglichst von afghanischen Soldaten und Polizisten fernzuhalten.

Der Zeitplan für den Teilrückzug der ISAF-Truppen soll jedoch beibehalten werden. Beim Polizeiaufbau ist zumindest die quantitative Zielmarke fast erreicht: Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpke mitteilte, sind derzeit 148000 von geplanten 157000 Polizisten im Dienst.

Sorgen macht die paramilitärische Bereitschaftspolizei, die voriges Jahr einen Personalschwund von 33,8 Prozent verbuchte. Dafür soll in Zukunft der Geldhahn aufgedreht und die Mittel für den Aufbau der afghanischen Polizei und Armee ab 2015 erhöht werden

* Aus: junge Welt, Montag, 24. September 2012


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