Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Angst vor Waffenbrüdern

USA stellen Ausbildung afghanischer Soldaten vorübergehend ein

Von Rainer Rupp *

Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hat den Sonntag abend in der ARD gezeigten »Tatort« über traumatisierte Afghanistan-Soldaten als wenig realistisch kritisiert und statt dessen eine größere »Wertschätzung« für die Soldaten am Hindukusch gefordert. Die haben allerdings inzwischen genau so große Angst vor ihren von NATO-Truppen ausgebildeten Waffenbrüdern in afghanischer Uniform wie vor den Taliban.

Bei Angriffen afghanischer Soldaten sind 2011 mindestens 35 NATO-Soldaten getötet worden. Seit Anfang dieses Jahres sind es bereits 45, davon 15 allein im August. Als Konsequenz haben die USA am vergangenen Wochenende die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften vorübergehend eingestellt. Zugleich sollen in einer ersten Phase etwa 27000 afghanische Soldaten neuen Sicherheitsprüfungen unterzogen werden, um mögliche Verbindungen zu Aufständischen aufzudecken.

Die Massenüberprüfungen verlangsamen jedoch den Aufbau der afghanischen Marionettenarmee und drohen, den ganzen US- und NATO-Teilabzugsplan zu Makulatur zu machen. Zugleich dürfte das Problem der massenhaften Desertion in der afghanischen Armee nach vollendeter Ausbildung die Lage zusätzlich erschweren. Die letzten offiziellen Angaben der NATO darüber stammen von Anfang September 2011. Demnach waren in den zurückliegenden sechs Monaten fast 25000 Soldaten von der Fahne gegangen, mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Der Grund für diese hohe Desertionsrate sind niedrige Löhne, miserable Behandlung, gefährliche Arbeitsbedingungen und der endlose Krieg mit den Taliban, die sehr stark die Sicherheitskräfte infiltriert haben.

Laut offiziellen US-Angaben hatte im März 2012 die Truppenstärke der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) 337516 Mann erreicht, davon waren 187874 in der Afghanischen Nationalen Armee (ANA) und 149642 in der ebenfalls militärisch ausgebildeten Afghanischen Nationalen Polizei (ANP). Bis Oktober 2012 sollen die ANSF auf 352000 aufgestockt werden, davon 195000 in der ANA und 157000 in der ANP. Damit läge Afghanistan weltweit an elfter Stelle der größten Armeen, während es zugleich auf der ganzen Welt nur noch neun Länder gibt, die ärmer als Afghanistan sind.

Derweil rechnet die NATO auch für den geplanten Teilabzug bis Ende 2014 mit weiteren Verlusten in den eigenen Reihen, so General Wolf Langheld, Befehlshaber des operativen Hauptquartiers der NATO im niederländischen Brunssum jüngst gegenüber der Bild-Zeitung. Diese bescheinigte unterdessen der NATO ein Versagen auf der ganzen Linie. In der Ausgabe vom 3. September lamentiert das Blatt, daß »die Afghanistan-Strategie des Westens kurz vor dem Scheitern« stehe, »unsere Partner in Afghanistan korrupt« seien, »wir das größte Problem des Landes (nämlich den Drogenanbau) unangetastet« ließen.

Indessen übte sich NATO-Generalsekretär Anders Fock Rasmussen in Brüssel in Durchhalteparolen. Auch nach der jüngsten Serie tödlicher Angriffe afghanischer Soldaten auf ihre »NATO-Waffenbrüder« werde es keinen beschleunigten Truppenabzug geben. »Unser Ziel, unsere Strategie, unser Zeitplan bleiben gleich«, so der NATO-Chef.

Umfragen in den USA haben indessen ergeben, daß selbst konservative Wähler sich kaum noch für den Krieg am Hindukusch begeistern können. Im Wahlkampf ist das Thema jedoch tabu. Laut einer Untersuchung der New York Times wurde beim Nominierungsparteitag der Republikaner letzte Woche das Wort Afghanistan kein einziges Mal in den Reden der Politiker erwähnt, so als gäbe es das Land und den amerikanischen Krieg dort überhaupt nicht. Beobachter erwarten, daß dies auf dem am Dienstag begonnen Parteitag der Demokraten nicht anders sein wird. Ohnehin sind sich beide Parteien einig, daß nach dem Teilabzug ein starkes Kontingent amerikanischer Soldaten weiter in Afghanistan bleiben soll. Auch Berlin sieht daher für die Bundeswehr eine Rolle am Hindukusch weit über 2014 hinaus.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 05. September 2012


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage