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Zielauswahl der Taliban – nur Beine hoch kann Leben retten

Schilder gegen Scharfschützen? / Attentäter bevorzugen "Fenneks" / Afghanistans Armee wächst nur langsam

Von René Heilig *

Afghanistan driftet in Richtung Vietnam. Militärpolitisch jedenfalls. Daran ändern große rote Schilder auf ISAF-Militärfahrzeugen nicht das Geringste.

»Bitte zurückbleiben« und »Abstand halten« steht auf den roten Klebefolien, die ISAF-Soldaten derzeit auf ihre Fahrzeuge pappen. Zweisprachig, in Dari und Paschtu. Man hofft so, Unbedarfte fernzu- halten. Immerhin haben ISAF-Soldaten in den vergangenen elf Monaten mindestens zehnmal das Feuer auf Unschuldige eröffnet. Die Angst vor Selbstmordattentätern lässt schnell den Finger krumm machen.

Ob Schilder gegen solche Irrtümer helfen? Wer kann die Schrift lesen? Die Masse der Einwohner Afghanistans sind Analphabeten. Und dann gibt es noch zahlreiche Einwohner, die wollen sich an die Bitte nicht halten. Viele von denen gehören zu den Taliban, die auch ohne Al-Qaida-Unterstützung gegen die fremden Soldaten im Land kämpfen. Zwar dezentral, wie es sich nach Partisanenart gehört, doch nicht ohne geeintes Oberkommando.

Von dort kommen nicht nur 29 Regeln, die für jeden Taliban bindend sind. Von dort kommen auch Hinweise auf lukrative Angriffsziele. Die finden sich nicht nur im heiß umkämpften Süden.

Es war im Sommer, da machte sich eine Patrouille der sogenannten Schutzkompanie des deutschen Wiederaufbauteams in Kunduz auf. Nicht weit entfernt vom Lager schlug ein Panzerabwehrgeschoss in einem Spähpanzer »Fennek« ein. Es drang in den Radkasten ein, durchschlug die Tür zur Fahrerkabine. Die drei Besatzungsmitglieder erlitten Verbrennungen und Splitterverletzungen. Nur weil der Kommandant ganz leger die Füße hoch genommen hatte, blieb er am Leben. Die Verstärkungstruppe, die den Soldaten mit Dingo-Fahrzeugen zur Hilfe kommen wollte, geriet in einen Hinterhalt und konnte sich nur durch Flucht retten. Ein 90-minütiges Feuergefecht schloss sich an. Wohlgemerkt im »ruhigen« Norden, nicht im umkämpften Süden, wo NATO-Luftwaffen täglich zwischen 40 und 60 Nahunterstützungsangriffe mit Bomben und Raketen fliegen müssen, um am Boden nicht noch größere Verluste zu erleiden.

Hinterhalt-Angriffe gegen deutsche ISAF-Soldaten häufen sich auch im Norden. Immer wieder sind »Fenneks« das Ziel. Dahinter steckt Methode, meinen heimgekehrte »Afghanistan-Kämpfer«. Denn ohne diese modernen Aufklärungsfahrzeuge sind die Deutschen so gut wie blind.

Abseits aller optimistischen Lageberichte schaut die Realität eher düster aus.. Man muss sich nur die Werkstattberichte anschauen. Von den rund 800 deutschen Fahrzeugen, über die die Bundeswehr in Afghanistan verfügt, sind gut 60 Prozent »geschützt«, also gegen Infanteriebeschuss oder leichte Minen immun. Doch nur drei Viertel der »Dingos«, »Füchse« und »Fenneks« sind einsatzbereit. Ganz zu schweigen von den hoch gelobten »Mungos«, den »gepanzerten Multicars« aus Waltershausen. Deren Achsen machen einfach »schlapp« und müssen vor Ort ausgetauscht werden. Nicht ohne Grund verzichtete die US-Army, die für ihre leichten Verbände dringend ein Fahrzeug sucht, das auch in unwegsamem Gelände brauchbar ist, weil es mit seinem geringen Gewicht auch ortsübliche Brücken überwinden kann, auf eine Bestellung des »Mungo«.

Insgesamt, so musste sich auch der verteidigungspolitische Experte der Grünen-Bundestagsfraktion vor Ort sagen lassen, ist die Lage »desolat«. Jede fünfte Langzeitpatrouille muss ausfallen.

Die Hoffnung, dass man sich schon bald aus Afghanistan verabschieden kann, weil die nationalen Streitkräfte die Entwicklung »in Griff« bekommen, ist absurd. Ende des Jahres, so besagen interne Berichte, wird die »Afghanistan National Army« rund 43 000 Soldaten haben. Über deren Kampfwert macht sich niemand Illusionen. Ebenso wenig glauben Experten, dass man bis 2011 – wie geplant – auf eine Sollstärke von 70 000 Mann kommt.

In dem Zusammenhang lächeln Experten nur finster, wenn sie darauf angesprochen werden, dass bis Mitte März 2007 alle illegalen bewaffneten afghanischen Gruppen aufgelöst sein sollen. Im September schätzte man, dass es über fünfeinhalb Tausend davon gibt. Tendenz steigend.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2006


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