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Soll kein Frieden sein in Afghanistan?

Ausgewählte Reden von den Kundgebungen der Friedensbewegung in Berlin und Stuttgart

Im Folgenden dokumentieren wir eine Auswahl von Reden, die bei den Kundgebungen der Friedensbewegung gegen den Afghanistan-Krieg am 20. September 2008 in Berlin und Stuttgart gehalten wurden.
Inhalt:


Wenn die Bürger sich das Zepter aus der Hand nehmen lassen ...

Kriegsgelüste, Widerstand und moderne Kriegspropaganda

Sabine Schiffer *


Offensichtlich hat bei vielen Deutschen die Friedenserziehung nach dem zweiten Weltkrieg gewirkt. Trotz der zunehmenden Kriegspropaganda mit und seit dem Balkankrieg vor zehn Jahren, ist die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland. Für eine Regierung auf Kriegskurs ist das eine schwierige Situation. Bisher verfolgt sie ihre Politik ohne Rücksicht auf die Meinung des Volkes – aber unser Widerstand wächst!

Darum ist zu erwarten, dass unsere Regierung, die bereits zur Propagierung des NATO-Kriegs gegen Serbien auf Kriegskurs gegangen ist und die die Interessen der NATO nun als sog. „EU-Außenpolitik“ fortsetzen will, die Anstrengungen der Meinungsbeeinflussung verstärken wird.

Da können wir uns auf einiges gefasst machen – und besonders dann, wenn die Manipulationen (die Spins und Neusprech-Formeln) zunächst nicht erfolgreich sind ...
  • Dann, wenn wir hinter schön klingenden Begriffen wie „humanitäre Intervention“ erkennen, dass es weder um Hilfe noch um Humanität geht.
  • Dann, wenn wir erkennen, dass das Konzept der sogenannten „humanitären Intervention“ selektiv und gezielt angewandt wird, um ganz bestimmte Regionen zu beherrschen: rohstoffreiche wie Irak, Kongo und Iran oder geostrategisch wichtige, wie Somalia, Libanon und Afghanistan.
  • Dann, wenn wir erkennen, dass unter dem Deckmantel der sogenannten „Friedensmission“ bewusst eine Eskalationsstrategie durch angebliche „Kollateralschäden“ verfolgt wird, die uns das Entsenden von Soldaten noch dringender erscheinen lassen sollen. Hochzeitsgesellschaften werden nicht aus Versehen beschossen!
  • Dann, wenn wir erkennen, dass mit dem Verweis auf „Menschenrechte“ das Völkerrecht ausgehebelt wird.
  • Dann, wenn wir erkennen, dass mit Menschenrechten geworben wird für den menschenverachtenden Einsatz neuer Waffen, die wir gerade in Afghanistan ausgiebig testen: Uranwaffen (sog. Bunker- und Panzerbrecher), Lithium-Mini-Nukes, Mikrowellen
  • übrigens letztere kann man auch in einer niedrigen Einstellung zum Auflösen von Demonstrationen, wie dieser hier, verwenden. Aber erst dann, wenn die Stärke der Dosierung in Echtsimulation getestet wurde – und das geschieht gerade mit Hilfe unserer Soldaten und unserer Technologie in Afghanistan.
Wenn man uns aber nicht überzeugt von der Vorstellung eines „gerechten Krieges“ (wie die evangelische Kirche das in ihrer sogenannten „Friedens“-Denkschrift nennt) – was dann?

Genau dann werden unsere Medien und Nachrichtenagenturen von Think-Tanks wie der European Foundation for Democracy (, die ausgiebig das Feindbild Islam pflegt) und Bertelsmann & Co., etwa durch die Stiftung Wissenschaft und Politik, sowie vielen beauftragten PR-Agenturen mit noch mehr Material versorgt, das uns auf Kriegskurs bringen soll. Danach richten wir uns ...

Man wird also noch mehr Propagandamaterial in den Mediendiskurs einspeisen:
  • gefälschtes Bildmaterial, wie aus dem Kosovo oder im Krieg Georgiens – und gefälschten Interviews, wie im Fall Putins durch die ARD…
  • Falschübersetzungen aus dem Arabischen, dem Paschtu oder dem Persischen, wie im Falle der Ahmadinejad-Äußerungen zur israelischen Politik
  • Parolen von „Sicherheit“, „Schutz“, „Vernunft“, „Solidarität“, wo doch nur blinde Bündnispflicht gemeint ist
  • Inszenierungen, wie etwa die von „helfenden Bundeswehrärzten“ in Afghanistan, während die medizinische Versorgung für die Bevölkerung zusammengebrochen ist
  • gut ausgewählte Aufbau-Bilder von Schulen und Neubauten in Kabul, während Armut, Analphabetismus und Hunger gleich neben dran und im Land zunehmen und ausgeblendet werden
  • und das Feindbild Islam, das nun über Jahrzehnte hinweg aufgebaut wurde (und sich darin niederschlägt, dass der wachsende Widerstand in Afghanistan und Pakistan mit dem Verweis auf „radikalislamische Taliban“ für unrecht erklärt werden soll). Gerade heute soll in Köln eine Konferenz gegen die „Islamisierung“ statt finden – das gehört zusammen – der „Kulturkampf“ wurde als Mittel der Kriegspropaganda erfunden!
Wir werden manipuliert ...
  • vor allem mit dem Schicksal von (muslimischen) Frauen in Afghanistan, die sich herzlich dafür bedanken, dass wir um ihrer angeblichen „Befreiung“ willen ihre Heimat zerstören und ihre Kinder töten.
  • mit weiteren inszenierten Terroranschlägen in Deutschen und schließlich mit echten, die man durch die aktuelle Politik herauf beschwört – so, dass ein „katalytisches Ereignis“ für die Kurskorrektur in Richtung Krieg innerhalb der Bevölkerung sorgen könnte. Seien wir also wachsam!

    Unsere Medien erfüllen zum großen Teil ihre Funktion als 4. Gewalt – als Kontrollinstanz – nicht (mehr):
    • sie sind eingebettet – embedded…
    • sie verbergen das hässliche Gesicht des Krieges – die Toten, die schrecklich zugerichteten Leichen der Testopfer, die Armut, die Krankheiten, die Missgeburten durch die Giftstoffe unserer technologischen Meisterleistungen
    • sie zeigen uns nicht die Frauen, die es als zynisch empfinden, wenn wir uns über ihre Kleidung aufregen, während sie ihr eigenes Leben verlieren oder durch den Verlust der Männer verhungern, ihre Kinder nicht versorgen können, sich prostituieren müssen – wofür Soldaten dankbare Abnehmer sind!
    Solange wir mehr Geld für Krieg als für Leben ausgeben, ist offensichtlich, welche Intentionen verfolgt werden. Die zunehmenden Kampfhandlungen des wachsenden Widerstands sprechen eine deutliche Sprache – die bisherige Strategie ist gescheitert!

    Nein, stimmt nicht – sie ist erfolgreich! Denn es soll kein Friede sein in Afghanistan. Sonst könnte man die Besetzung des Landes nicht mehr rechtfertigen. Es läuft also gut.

    Und damit dieses perfide „Spiel“ weiter laufen kann
    • brauchen die Kriegstreiber gute Beziehungen zu den Heimatredaktionen der Medien, was sich in der Auswahl von Themen und sehr späten Sendezeiten für wichtige Hintergrundberichte niederschlägt – die immer seltener werden
    • darum werden PC-Spiele vom Bundestag gefördert, damit unsere Jugendlichen an den dafür entwickelten Tötungstrainern auf ihre militärischen Aufgaben vorbereitet werden
    • darum brauchen wir Kernkraftwerke, um waffenfähiges Uran zu erzeugen
    • darum brauchen wir Wirtschafts-Reformen, damit die Menschen mit der Existenzsicherung beschäftigt sind und von der politischen Beteiligung abgehalten werden
    • darum brauchen wir Steueridentifikationsnummern, biometrische Kenndaten, online-Durchsuchungen und eMail-Überwachung, denn mit einem freien Volk ist der Krieg nicht zu machen.
    Und auch mit einem unfreien Volk nicht, den die eingesetzte Technologie und die Ausbeutung der Ressourcen für Vernichtungszwecke wird keinen von uns verschonen. Wir befinden uns an der Schwelle zum letzten Krieg. Mit Kosovo, Irak und Afghanistan haben wir diese Schwelle schon überschritten. Aber wir können noch stoppen!

    Wir sind hier in Berlin an dem Ort, wo früher die Mauer stand, die Deutschland trennte. Es ist Zeit, die ideologischen Trennwände einzureißen und sich zu verbünden.

    Sich zu verbünden mit der weltweiten Friedensbewegung, mit den Nachbarn und dem angeblichen Feind. Es ist Zeit, Runde Tische ins Leben zu rufen, das Forum 22 wiederzubeleben, denn wir haben ein Demokratieproblem in Deutschland.

    Es ist Zeit, Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstands anzuwenden – es geht nicht nur um die Existenz unseres Gemeinwesens. Es geht um die Existenz überhaupt – bei Halbwertzeiten von abgereichertem Uran von 4 ½ Mrd. Jahren.

    Und das wird niemand für uns in Ordnung bringen! Auch nicht ein anderer US-Präsident, auch nicht Obama, der nun von Zbigniew Brzezinski beraten wird – dem Vater der eurasischen Geostrategie mit Blick auf Russland und China, die auf Kosten Afghanistans ausgetragen wird.

    Und auf die europäischen Vasallen des wirtschaftlich-militärischen Komplexes brauchen wir auch nicht zu hoffen.

    Wir sind verantwortlich für das, was geschieht.
    Wir sind das Volk!
    Und wir müssen endlich Souverän werden!

    * Dr. Sabine Schiffer leitet das Institut für Medienverantwortung, Erlangen

    Berlin 20.09.2008


    "In Afghanistan herrscht Krieg. Wir fordern eine Umkehr zum Zivilaufbau und den Abzug der Bundeswehr."

    Reinhard J. Voß **

    Liebe Friedensfreundinnen und –freunde,

    sogar der Bundeswehrverband als Soldatenvertretung fordert neben der Aufstockung der Zahl der Soldaten, endlich der Realität ins Auge zu sehen und zuzugeben, dass in Afghanistan Krieg herrscht und die deutsche Bundeswehr nicht einfach in einem Einsatz zum Aufbau einer neuen Zivilgesellschaft ist. Meldung v. 3. September 2008: Bundeswehrverband: "Deutsche Soldaten befinden sich im Krieg" - „Die Lage in Afghanistan wird für deutsche Soldaten immer unsicherer – laut Oberst Bernhard Gertz, dem Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes, spielt die Bundesregierung die Gefährlichkeit des Einsatzes herunter. "Wir befinden uns in einem Krieg gegen einen zu allem entschlossenen, fanatischen Gegner", sagte Gertz der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Bernhard Gertz hat erst am letzten Wochenende Weiteres unverblümt ausgesprochen: Die Bundesregierung habe beim Aufbau der afghanischen Polizei „schmählich versagt“. Der Einsatz von 40 deutschen Polizeibeamten sei ein „unverschämt kleiner Beitrag“ eines Landes, das sich immerhin verpflichtet habe, im Rahmen der EU bei der Polizeiausbildung in dem kriegsgeschüttelten Land die Führung zu übernehmen. (Tsp. 9.9.) - Tatsächlich hat die EU den Afghanen versprochen, insgesamt 160 Ausbilder zu schicken. Derzeit sind nicht einmal 100 europäische Polizisten im Land, einschließlich der 40 Deutschen. Notwendig wären aber 5 000, behaupten die Amerikaner.

    Wir sind mitten drin im Umbruch der deutschen Diskussion zum Afghanistan-Krieg. In den letztjährigen Bundestagsdebatten zur Verlängerung dieses Doppel-Mandats hatte ich oft den Eindruck, keine Debatten über Militärstrategien, sondern über Entwicklungshilfe zu hören. Beim letzten Mal wurde eigens der KSK-Einsatz abgekoppelt und extra abgestimmt, ohne ihn beenden zu wollen – nur um diesen zivilen Eindruck zu verstärken. Das gleiche Spiel erleben wir jetzt wieder.

    Die vom SPD-Kanzlerkandidaten und Außenminister Steinmeier geforderte „ehrliche Debatte“ (SZ 18.9., S.5) findet ja nicht statt. Es geht um mehr als die Fortschreibung und Aufstockung eines falschen Weges. Es geht um eine schonungslose Bilanz. Es reicht nicht, wenn Außenminister Steinmeier die Fehler der militärischen Partner nicht mit verantworten will. Und es ist unglaublich, wenn „Verteidigungsminister“ Jung offen sagt: „Wir brauchen keinen Strategiewechsel, sondern wir müssen unsere Strategie des vernetzten Ansatzes in ganz Afghanistan vorantreiben.“ - Da frage ich mich wirklich, ob dies Naivität in Bezug auf die begrenzte deutsche Rolle in der NATO oder Böswilligkeit gegenüber der deutschen Öffentlichkeit ist.

    Sagen wir es deutlich und offen: das bisherige Doppelmandat – hier Aufbauhilfe, dort Krieg gegen den Terror – ist zu Ende. In der kommenden Bundestagsdebatte zu Verlängerung des Afghanistan-Mandats werden - wir wie übrigens in Ansätzen auch schon in der letzten zum Thema – hören, dass die Trennung auch nie so gedacht und gewollt war… Früher war sie quasi die Bedingung der deutschen Beteiligung.

    Wir betonen heute einhellig in der Friedensbewegung: Die Wahl besteht zwischen Aufbau und Krieg; Krieg ist keine Abstützung des Zivilaufbaus – schon gar nicht nach sage und schreibe 7 Jahren – ein Jahr länger schon als der Zweite Weltkrieg!

    Die deutsche Sektion der katholischen Friedensbewegung pax christi hat diesen Krieg von Anfang an abgelehnt. Als kurz nach den Terrorananschlägen von New York und Washington Afghanistan im Herbst 2001 angegriffen wurde, haben wir zu Besonnenheit und Verhandlungen aufgerufen. Nach dem schnellen Sieg der internationalen Truppen unter einem undeutlichen UN-Mandat haben wir die Aufbauhilfe befürwortet und den Militäreinsatz Deutschlands geduldet, weil er mit Ausnahme der von uns abgelehnten Anti-Terror-KSK-Einheit, strikt vom „Krieg gegen den Terror“ (Operation Enduring Freedom, OEF) getrennt war. Die ISAF - International Security Assistance Force – sollte zeigen können, wie sie den Zivilaufbau unterstützen und abstützen würde. Mehrere Zivilorganisationen haben dann aber wie wir auch in den folgenden Jahren ihre Skepsis öffentlich gemacht, dass Militärunterstützung ihren Einsatz mehr gefährde als abstütze. Einige sind deswegen abgezogen. Die deutschen NGOs (VENRO) haben schon vor einigen Jahren eine strikte Beschränkung des Militärs gefordert und sich von ihm auch nicht geschützt erlebt. Manche Beobachter spotteten nach den ersten Anschlägen, die Bundeswehr sei mehr damit beschäftigt, sich selbst als andere zu schützen. Seither erlebten wir eine immer deutlichere Verflechtung der beiden Mandate – „Krieg gegen den Terror“ und Aufbaumandat. Für uns war der entscheidende Knackpunkt im Frühjahr 2007 erreicht, als die Bundesregierung beschloss, Tornadoflugzeuge zur Aufklärung in ganz Afghanistan einzusetzen und den Nato-Krieg damit aktiv zu unterstützen. Seitdem schlittert die Bundeswehr, auch von den Nato-Partnern weiter und weiter gedrängt, in den Krieg. Die Aufstockung um weitere 1000 Soldaten auf 4.500 in diesem Herbst ist nur ein weiterer Schritt. Bald kommen die von der Nato schon inoffiziell angeforderten deutschen Awacs-Aufklärungsflugzeuge sicherlich hinzu. Es ist ein Hineingleiten in einen Krieg unter dem Vorwand eines zivilen Aufbaumandates. Lügen wir uns doch nicht weiter in die Tasche. Das sagt auch der Bundeswehrverband – nur ziehen wir konträre Konsequenzen als Friedensbewegung! Dieser kriegerische Anti-Terror-Einsatz muss nicht ergänzt - er muss abgelöst werden durch konsequenten Friedensaufbau. Die Aufbauhilfe, ohnehin viel zu niedrig und halbherzig angesetzt, gleitet hinein in einen lang anhaltenden und nicht zu gewinnenden Krieg.

    Die an der Universität London über „Entwicklung“ lehrende Iranerin Elaheh Rosami Povey sagt dazu: „Die ganze Idee, zuerst Sicherheit zu schaffen und dann Entwicklung, ist eine Entschuldigung dafür, weder Entwicklung noch Wiederaufbau voranzubringen.“ Sie bilanziert diesen Krieg als „Ausdruck einer kolonialen Denkweise“ und spitzt zu: „ Die Invasoren sind weder am Wiederaufbau Afghanistans interessiert noch bringen sie Demokratie und Frauenbefreiung.“

    Hören wir dagegen den deutschen verantwortlichen General Schneiderhan – Generalinspekteur der Bundeswehr. Er begründete den weltweiten Einsatz der Bundeswehr auf der 41. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 11. März 2008 als „souveräne aktive politische Entscheidung zum Einsatz militärischer Macht im Konzept weltweiter Sicherheitsvorsorge“. Ja: Sicherheitsvorsorge! Die definierte er kürzlich in einem Aufsatz über den Soldaten im Zeitalter der Globalisierung so: „Wir benötigen eine zeitgemäße, vernetzte Sicherheitspolitik, deren Ziel es ist, Gefährdungen unserer Sicherheit bereits am Entstehungsort zu begegnen.“ Das ist eine deutliche Neuauflage und Fortschreibung des legendären Wortes des früheren Verteidigungsministers Struck über die angebliche Verteidigung unserer Sicherheit am Hindukusch.

    Aber offiziell behauptet die Bundeswehr seit Anfang an und auch weiterhin im Afghanistaneinsatz: Wiederaufbau, Demokratie, Frauenbefreiung würden gefördert. Und die Koalitionsparteien in Berlin werden nicht müde, die Erfolge im zivilen Aufbau – bei Schulen, Straßen, Zivilverwaltung, Polizei, regionale Zurückdrängung des Drogenanbaus usf. - zu loben. Und dies alles als Begründung der Notwendigkeit des Militäreinsatzes zu vereinnahmen. Wir werden das in den nächsten Wochen bis Mitte Oktober wieder zur Genüge hören – und ich sage: wir werden es nicht mehr glauben!

    Sondern wir fragen (ich zitiere Clemens Ronnefeldt aus der Aktionszeitung zu den heutigen Demos, S. 2): „Was wird für und am Hindukush verteidigt? Unser westlicher Lebensstil? Das Überleben der NATO? Die Option auf einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat? Die Eindämmung Chinas, Indiens und Russlands? Eine Plattform für die US-Regierung zum Iran-Angriff ?“

    Um noch einmal pax christi zu zitieren; ihr Vizepräsident Johannes Schnettler sagte letzte Woche im Rundfunk (DOM-Radio Köln):
    „Nun sind wir in einer Spirale der Gewalt, (...) und die muss gestoppt werden. (...) Wir plädieren dafür, dass wir eine klare Exit-Strategie formulieren, wo deutlich wird, dass wir den zivilen Aufbau fortsetzen, aber gleichzeitig auch dafür sorgen, dass wir die militärische Präsenz zurückfahren.“

    Ich will und muss hier betonen:
    Wir sagen nicht einfach Nein, wir fordern kein Disengagement in Afghanistan. Wir fordern einen wirklichen Strategiewechsel, wie es auch die Entwicklungsorganisationen und Kirchen insgesamt tun. Und wir gehen den einen Schritt weiter und sagen: diesen Strategiewechsel erwarten wir nicht mehr vom Militär und der dies einsetzenden Politik. Dann bleibt nur der Abzug und nicht ein „immer weiter so“, ein „immer mehr vom selben Falschen“!

    Selbst ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung, der diesen Einsatz immer befürwortet hat und wohl eher eine Verstärkung als einen Abzug im Blick hat – Stefan Kornelius – schrieb diese Woche (SZ 8.9.08) über die NATO: „In der Georgien-Krise ist die Nato zur Bedeutungslosigkeit verdammt. In Afghanistan läuft sie sehenden Auges in das nächste Desaster.“ Und er fügt hinzu: „Es herrscht stiller Defätismus – man verschweigt im Bündnis die Probleme und hofft auf die nächste US-Regierung.“

    Dabei sollten wir nicht vergessen: wenn diese von der demokratischen Partei unter Obama angeführt würde, sollen erklärtermaßen die internationalen Truppen in Afghanistan deutlich aufgestockt werden, und damit wohl auch die deutschen, um den militärischen Sieg doch noch zu schaffen. Ich frage: um welchen Preis?! Schon jetzt sind die zivilen Opfer so zahlreich, dass die afghanische Regierung seit Jahr und Tag darüber unruhig wird und an Legitimität verliert.

    Der Krieg ist keine Lösung! Wir haben Alternativpläne entwickelt. Ich verweise nur auf drei ausgearbeitete Vorschläge:
    Herbert Sahlmann – langjähriger Entwicklungsbeauftragter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Afghanistan – machte 20 konkrete Vorschläge in seinem Friedensplan, der noch auf einen sofortigen Rückzug der Bundeswehr verzichtete;
    Andreas Buro aus der deutschen Friedensbewegung und vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, hat in seinem zivilen Strategieplan neue Wege dort aufgezeigt.
    Auch der frühere ARD-Sonderkorrespondent Christoph R. Hörstel hat in seinem Buch „Sprengsatz Afghanistan. Die Bundeswehr in tödlicher Mission“ einen diskussionswürdigen 5-Jahres-Friedensplan vorgelegt.

    Wer für den Fall des Militär-Abzugs der NATO ein Chaos an die Wand malt, erinnert mich an die ähnlich warnenden Stimmen vor der Unabhängigkeit Indiens, die damals aus Großbritannien kamen. Und es gibt ja Alternativen auch hier. Der Exil-Afghane Matin Baraki von der Universität Marburg, der heute in Berlin redet, schlägt übergangsweise notfalls eine neue ISAF (assistance force) aus blockfreien und islamischen Staaten vor, um den Islamisten zu begegnen, die westliche Truppen aus quasi-religiösen Gründen verteufeln.

    Zum Schluss möchte ich mich den Forderungen anschließen, die die „Kooperation für den Frieden“, der Zusammenschluss von 50 Friedensorganisationen und –initiativen, und die „Nationale Friedens-Jirga Afghanistans“, ein zivilgesellschaftliches Bündnis, kürzlich zusammen aufgestellt haben, und zwar an die Regierungen in Berlin und in Kabul. Beide Friedensbündnisse sehen in ihrer „Gemeinsamen Erklärung“ die afghanische Bevölkerung derzeit als „Gefangene der Militärmächte UND der Taliban“.

    Sie fordern die afghanische Regierung gemeinsam auf, die Korruption zu bekämpfen, Kriegverbrecher zu verurteilen, den Drogenanbau und –handel einzustellen, die Demokratie weiter zu entwickeln und die Einheit des afghanischen Volkes zu fördern.

    Und sie haben vier Forderungen an die deutsche Bundesregierung bzw. den Bundestag:
    1. keine weiteren Kampfhandlungen in Afghanistan und Abbruch der Tornado-Einsätze und keine Erhöhung der Soldatenzahl sowie feste Daten für einen Truppenabzug.
    2. eine neue Verhandlungsoffensive „mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und der afghanischen Regierung“ – mit Deutschland als „ehrlichem Makler“;
    3. die Aufstockung der zivilen Hilfe bis zu dem Betrag, der frei wird durch den Abzug der Truppen, also etwa 500 Mio Euro jährlich - für nationale und dezentrale Entwicklungs- und Aufbauprojekte dort;
    4. und schließlich eigene diplomatische Schritte in Kooperation mit europäischen, islamischen und blockfreien Ländern sowie mit China, Indien und den USA, für eine Friedens- und Sicherheitskonferenz.
    Dies sollte im Bundestag in diesem Herbst debattiert werden, statt einfach ein „Weiter so“ zu beschließen.

    Vielen Dank für Ihre und Eure Aufmerksamkeit!

    ** Dr. Reinhard J. Voß, Ex-Generalsekretär von Pax Christi Deutschland


    "Friedenssoldaten" - wohin das Auge schaut

    Peter Strutynski ***

    Liebe Friedensfreundinnen und –freunde,
    Kolleginnen und Kollegen,
    sehr geehrte Damen und Herren,


    „Wir führen keinen Krieg“, sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend der ersten Angriffswelle von NATO-Flugzeugen auf serbische Städte am 24. März 1999. In diesem Nicht-Krieg wurden zweieinhalb Monate lang Tausende und Abertausende von Bomben auf jugoslawische Städte und Dörfer, Rundfunksender, Fabriken, Brücken, Krankenhäuser und einmal sogar auf die chinesische Botschaft in Belgrad abgeworfen. „Wir führen keinen Krieg“, sagten Schröder und die NATO – und der damalige zuständige Minister Scharping war demnach auch kein Kriegsminister.

    Vor wenigen Tagen wiederholte der derzeitige zuständige Minister, Franz-Josef Jung, die Version vom Nicht-Krieg. „Dies ist kein Krieg“ sagte er anlässlich eines Truppenbesuchs in Afghanistan. Jung ist Verteidigungsminister und verteidigt als solcher – getreu einem Wort seines Vorgängers Struck – Deutschland am Hindukusch. Demnach ist auch Franz-Josef Jung kein Kriegsminister.

    Soldaten sind keine Mörder – so werden wir von Militärliebhabern belehrt, die seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegen anderslautende Botschaften, etwa des linken Pazifisten Kurt Tucholsky, zu Felde ziehen. Wenn Soldaten aber keine Mörder sind – und das stimmt ja soweit auch, denn nicht jeder Soldat ist ein Mörder – wenn also Soldaten keine Mörder sind, was sind sie dann? Lebensretter? Sozialarbeiter? Bauarbeiter? Nichts von alledem – oder noch mehr: Es sind „Friedensbringer“. Der halbe Erdball heute ist übersät von Friedenssoldaten, die mit oder ohne UN-Auftrag Frieden herstellen oder bewahren, für Sicherheit sorgen, Staaten stabilisieren, den Mohnanbau bewachen oder korrupte Regime beschützen. Im Kaukasus, im Sudan, im Kongo, im Irak und eben auch in Afghanistan. Es stört die Orwellschen Sprachakrobaten auch nicht, wenn überall dort, wo Friedenssoldaten im Einsatz sind, Menschen sterben, feindliche Rebellen im Gefecht umkommen, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht werden, Gefangene gefoltert und Frauen und Kinder „aus Versehen“ erschossen werden. Nun, wenn das das Ergebnis von Friedenssoldaten ist, bitte, dann lassen wir ihnen diesen Namen und nennen Herrn Jung konsequenterweise „Friedensminister“. Man muss dann nur wissen, was gemeint ist.

    Ich für meinen Teil halte mich an die herkömmliche Bedeutung des Wortes „Frieden“ und sage: Frieden sieht anders aus. Und ein Friedensminister verträgt sich nicht mit einem Krieg in Afghanistan, mit einem weltweiten „Krieg gegen den Terror“, an dem Deutschland ebenfalls seit sieben Jahren an der Seite der USA beteiligt ist.

    Wer wirklich Frieden will in Afghanistan, muss zuallererst den Krieg beenden. Und wer den Krieg beenden will, muss zuallererst die fremden Truppen aus dem Land abziehen und darf zum zweiten keine Waffen mehr in die Region liefern – gleichgültig an welche Seite.

    Sieht man sich die Außen- und Kriegs-, Pardon: Friedenspolitik der Bundesregierung an, so wird man den Eindruck nicht los, als gelte in Berlin die olympische Formel vom „Dabei sein ist alles“. Neun Auslandseinsätze der Bundeswehr sind es derzeit und ein Ende oder gar eine Wende ist nicht absehbar. Im Gegenteil: Die Bundeswehr wird mit Hochdruck in eine „Armee im Einsatz“ transformiert und damit in die Lage versetzt, in der ganzen Welt mitschießen zu können.

    Seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien gibt es zwei unverrückbare Prinzipien der deutschen Politik – und zwar gleichgültig, welche Koalition gerade regiert:
    1. Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird grundsätzlich zugestimmt.
    2. Die Ausgaben für Rüstung und Militär sind sakrosant. Sie werden allenfalls nach oben korrigiert.
    Aufrüstung und Krieg finden sozusagen in einer demokratiefreien Zone statt. Sie sind faktisch ausgeklammert aus dem politischen Geschäft.

    Worüber wird nicht alles gestritten: über die Kilometerpauschale, über die Kinderbetreuungskosten, die Gesundheitsreform – alles wichtige Dinge, zweifellos. Und in all diesen Debatten spiegeln sich die wechselnden Mehrheiten, hinter denen unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft stehen.

    Nur wenn es um Auslandseinsätze und um Rüstungsausgaben geht, sind die regierenden und opponierenden Parteien (die LINKE nehme ich hier aus) ein Herz und eine Seele. Und das, obwohl es gerade hier ganz eindeutige Meinungsmehrheiten in der Bevölkerung gibt. Während sämtliche repräsentativen Umfragen zeigen, dass zwischen 60 und 80 Prozent gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan sind, wird dieser Einsatz regelmäßig im Bundestag mit einer Mehrheit von 80 bis 90 Prozent abgenickt. Das ist ein demokratiepolitischer Skandal erster Ordnung.

    Der zweite Skandal, den ich ansprechen möchte, ist sozialpolitischer Natur. In dieser Woche fanden im Bundestag die ersten Haushaltsdebatten statt. Von den großen Ausgabenposten im Etat 2009 macht der Verteidigungsetat den größten Sprung nach oben: Im kommenden Jahr werden über 31 Mrd. Euro für Rüstung, Waffen und Militär ausgegeben. Das ist – in festen Preisen – wieder genauso viel wie Mitte der 80er Jahre, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Das kann und das darf sich keine noch so reiche Gesellschaft leisten. Vor allem dann nicht, wenn der Reichtum an einem immer größeren Teil der Gesellschaft vorbei geht. Ich spreche von den 7,4 Millionen Menschen, die auf Hartz-IV angewiesen sind. Oder von den 2,5 Millionen Kindern hier zu Lande, die unter der Armutsgrenze leben. Oder von den 6 ½ Millionen Menschen, die in ihren Jobs so wenig verdienen, dass sie damit keine Familie ernähren können. Oder von den Hunderttausenden Jugendlichen, denen der Weg in ein normales Ausbildungs- und Erwerbsleben verschlossen bleibt. Oder von den Schülern und Studierenden, die unter einem defizitären Bildungssystem zu leiden haben. 31 Mrd. Euro für Rüstung und Krieg sind also ein sozialpolitischer Skandal. Daher fordern wir Abrüstung statt Sozialabbau.

    Und der Afghanistankrieg ist schließlich auch ein entwicklungspolitischer Skandal. 140 Mio. Euro gibt die Bundesrepublik in diesem Jahr für den zivilen „Wiederaufbau“ aus. Ich will jetzt gar nicht darüber reden, was von diesem Geld dann tatsächlich bei den Menschen im Land ankommt. Wenn wir diese Summe in Relation zu den Kriegsausgaben setzen, entsteht ein krasses Missverhältnis. 450 Mio. Euro für den Bundeswehreinsatz, und ein knappes Drittel davon für die humanitäre Hilfe. Nun haben Kanzlerin und Entwicklungsministerin bei der Vorlage ihres neuen Afghanistankonzepts vor zwei Wochen eine Aufstockung der Wiederaufbauhilfe um 30 Mio. versprochen. Gleichzeitig aber sollen die Truppen von 3.500 auf 4.500 Soldaten aufgestockt werden. Das bedeutet Mehrkosten für den Kriegseinsatz in Höhe von mindestens 100 Mio. Euro. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung setzt weiter und in verstärktem Maß auf Krieg und Besatzung, und nicht auf zivile Hilfe.

    Ein letzter Punkt, liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren.
    Es gibt viele Politikerinnen und Politiker aus dem sozialdemokratischen und grünen Lager, die die Probleme in Afghanistan ähnlich zugespitzt sehen wie wir. Bei der Forderung nach einem Abzug der Truppen reagieren sie aber empfindlich. Damit würde man das Land den Taliban und dem Terrornetzwerk von Al Kaida überlassen und das Land würde im Chaos und Bürgerkrieg versinken.

    Dazu sagen wir: Das Chaos in Afghanistan haben wir bereits und auch gestorben wird heute schon. Und ein wesentlicher Grund für das Chaos – und wie wir zunehmend erfahren, auch für die steigende Zahl getöteter Zivilpersonen – ist die ausländische Besatzung selbst. Mit jeder Truppenaufstockung in den letzten Jahren hat auch der bewaffnete Widerstand im Land zugenommen. Wer es also ernst meint mit einem Strategiewechsel, muss zuallererst die Besatzung beenden. Das garantiert noch keinen Frieden, auch das sage ich ganz klar. Aber damit wäre wenigstens eine Ursache der Gewalt beseitigt, und das liegt in unserer Verantwortung.

    Deshalb: Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan.

    *** Dr. Peter Strutynski, Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


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