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Wettlauf um Abzug

Nichts wie weg hier: Großbritannien bereitet vorzeitiges Ende seines Afghanistan-Einsatzes vor. Andere NATO-Staaten könnten bald folgen

Von Rainer Rupp *

Unter dem Titel »Auslandseinsatz« strahlt die ARD am Mittwoch zur besten Sendezeit eine Landserschmonzette aus, die den Kriegsalltag bundesdeutscher Soldaten am Hindukusch darstellen soll. Der Spielfilm, heißt es in der Ankündigung des Senders, »ist keine Heimkehrergeschichte, sondern der erste deutsche Film, der den Krieg und den Einsatz in Afghanistan selbst zum Thema hat«.

Während das deutsche Fernsehpublikum dergestalt auf eine dauerhafte Präsenz der Bundeswehr am Hindukusch eingestimmt werden soll, bereiten sich NATO-Staaten wie Großbritannien auf einen überstürzten Rückzug vor. Britischen Medienberichten vom Wochenende zufolge steht die Militärführung in London derzeit kopf. Finanzminister ¬George Osborne hatte den Generälen bei einem Treffen im Verteidigungsministerium eine Standpauke gehalten und die Frage nach dem Sinn eines Verbleibs britischer Truppen in Afghanistan für weitere zwei Jahre gestellt. Daher sei die britische Generalität derzeit mit Hochdruck dabei – so die übereinstimmenden Meldungen – in kürzester Zeit einen Plan B auszuarbeiten, der »eine dramatische Beschleunigung des Abzugs« britischer Truppen aus dem besetzten Land erlauben würde. Ursprünglich wollte sich das Militär an die US-Vorgaben halten und vor Anfang 2014 keine Soldaten aus Afghanistan zurückholen.

Auf dem NATO-Gipfel in Chicago im Mai dieses Jahres hatte US-Präsident Barack Obama öffentlich den Termin zum Abzug aller US-Kampftruppen aus Afghanistan auf Ende 2014 festgesetzt. Damit begannen jedoch die Spekulationen, ob die kriegsmüden NATO-Verbündeten mit dem Abzug ihrer eigenen Truppen überhaupt so lange warten wollten. Schließlich sah sich der Generalsekretär der Kriegsallianz in Brüssel, Anders Fogh Rasmussen, Anfang Oktober zu der Erklärung genötigt, am Hindukusch werde es unter den Verbündeten »keinen Wettlauf um den Abzug geben«. Aber mit den jüngsten Ankündigungen dürfte London den Startschuß für dieses Wettrennen abgefeuert haben. Deshalb könnte die einheitliche NATO-Fassade in Afghanistan schon demnächst Risse bekommen.

Am Sonntag kündigte der britische Verteidigungsminister Philip Hammond an, daß 4500 Soldaten, die Hälfte der in Afghanistan operierenden britischen Kräfte, bereits 2013 über das Jahr verteilt zurückgeholt würden. Die endgültige politische Entscheidung dafür würde jedoch erst im Dezember gefällt, so Hammond. Allerdings wächst in London der politische Druck auf die liberal-konservative Cameron-Regierung, den gesamten Rückzug weiter zu beschleunigen, so daß die letzten britischen Kampftruppen bereits vor Ende 2014 zu Hause sind.

Finanzminister Osborne, der die desolate Haushaltslage der finanziell bankrotten Cameron-Regierung besser kennt als seine Kabinettskollegen, will den Geld und Ressourcen fressenden Afghanistan-Krieg sogar am liebsten mit einem Schlag loswerden. Bei einem Treffen mit Verteidigungsminister Hammond in der vergangenen Woche forderte er daher einen sofortigen und totalen Abzug vom Hindukusch.

Unterdessen wurde bekannt, daß fünf Soldaten des britischen Elitecorps »Royal Marines« wegen Mordverdachts festgenommen worden sind. Die Tat soll 2011 in Afghanistan begangen worden sein, als die fünf einen am Boden liegenden, verwundeten Gegner kaltblütig umgebracht haben. Sie sollen sich unbestätigten Berichten zufolge bei der Tat amüsiert haben, wie angeblich auf einem »Trophäenvideo« zu sehen ist.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 16. Oktober 2012


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