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"Kunduz wird für immer Teil unseres gemeinsamen Gedächtnisses bleiben"

Rede von Verteidigungsminister Thomas de Maizière bei der Übergabezeremonie / Kommentar: "Rede an den Sensenmann"


12 Jahre nach dem Beginn des Krieges gegen Afghanistan und zehn Jahre nach Beginn des deutschen Einsatzes in Kundus hat die Bundeswehr in einer Zeremonie ihr Hochsicherheitscamp an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben. Mit dabei zwei Mitglieder der Bundesregierunbg: Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP).
Im Folgenden dokumentieren wir die Ansprache von de Maizière [im Kasten]. Er betonte einerseits, dass "Kunduz .. für immer Teil unseres gemeinsamen Gedächtnisses bleiben" werde. Andererseits schien er vergessen zu haben, was Kunduz vor allem bedeutete: Den von einem deutschen Obersten befohlenen Einsatz, dem am 4. September 2009 140 Menschen, überwiegend Zivilpersonen, Kinder und Jugendliche zum Opfer fielen. De Maizière erinnerte sich nur an Folgendes: "Kunduz, das ist auch ein Ort, an dem schwerwiegende Entscheidungen getroffen wurden, getroffen werden mussten."
Im Anschluss an die Rede des Verteidigungsministers folgt ein passender Kommentar, den wir der Tageszeitung "neues deutschland" entnommen haben.



Grußwort des Bundesministers der Verteidigung Dr. Thomas de Maizière

anlässlich der Übergabe Kunduz

(Anrede),

die Bundeswehr hat das „Provincial Reconstruction Team Kunduz“ (PRT) im Oktober 20031 von den USA übernommen. Einer der ersten deutschen Kommandeure ist deswegen heute auch hier.

Heute – 10 Jahre später – übergeben wir die deutsche Einsatzliegenschaft Kunduz an unsere afghanischen Partner.

Alleine das sagt viel aus über die Entwicklung der letzten 10 Jahre.

Hier wird zukünftig ein Kandak (des 209. Korps) der afghanischen Armee seine neue Heimat finden. Die afghanische Polizei (Afghan National Civil Order Police) erhält hier mit Unterstützung der NATO (Training Mission in Afghanistan) ein Training Center.

1. Zuerst einmal möchte ich mich an unsere afghanischen Partner wenden. Auf diesen Tag haben wir gemeinsam – Amerikaner, Niederländer, Belgier, Armenier und viele weitere Verbündete der ISAF und eben wir Deutsche als Führungsnation hier im Norden mit Ihnen, unseren afghanischen Freunden und Partnern, Schulter an Schulter, hingearbeitet.

Seit 2010 waren die gemeinsame Ausbildung („Mentoring“) und der gemeinsame Einsatz („Partnering“) von ISAF, afghanischer Armee und afghanischer Polizei der Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit.

Wir sind gemeinsam einen langen Weg gegangen und wir haben viel erreicht.

Aber es bleibt auch noch eine Menge zu tun.

Im Rahmen des Transitionsprozesses haben die afghanische Armee und die afghanische Polizei eine verantwortungsvolle und herausfordernde Aufgabe übernommen.

Seither sind Sie verantwortlich für die Sicherheit der Menschen hier im Bereich Kunduz-Baghlan von Shirkhan Bandhar bis zum Salang – und damit für die weitere friedliche Entwicklung dieser Schlüsselregion und von Afghanistan als Ganzes. Die Verantwortung, die wir an Sie, unsere afghanischen Partner, übergeben, ist groß.

Das wissen wir. Wir wissen um die Opfer. Wir trauern mit ihren Familien.

Und wir haben großen Respekt vor der Tapferkeit und der Standhaftigkeit der afghanischen Soldaten und Polizisten.

Wir hoffen und erwarten, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Sicherheit in und um Kunduz bewahren und notfalls wiederherstellen.

Ohne Sicherheit gibt es keine politische oder wirtschaftliche Entwicklung.

2. Meine zweite Bemerkung richtet sich eher an die deutsche Seite: Abschied nehmen von Kunduz: Das bedeutet viel für die Bundeswehr, für Deutschland.

Kunduz wird für immer Teil unseres gemeinsamen Gedächtnisses bleiben.
  • Kunduz, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste, zu kämpfen. Das war eine Zäsur – nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft.

    Es war mir deshalb wichtig, dass heute auch einer der Soldaten bei uns ist, dem (mit drei weiteren Kameraden) als einem der ersten von unserer Bundeskanzlerin das (neu gestiftete) Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit verliehen wurde.
  • Kunduz, das ist auch ein Ort, an dem schwerwiegende Entscheidungen getroffen wurden, getroffen werden mussten.

    Kunduz, das ist ein Ort, an dem es viele Tote gab – auf allen Seiten.

    All dieser Toten wollen wir gerade auch am heutigen Tag gemeinsam gedenken. Und auch künftig werden wir ihnen ein Andenken bewahren. Ich empfinde es als eine besonders große Ehre, dass heute die Mutter eines gefallenen deutschen Kameraden bei uns ist.
  • Kunduz, dieser Ort steht auch dafür, dass unser militärisches Engagement einen Anfang und ein Ende hat, nicht aber unser politisches Engagement.
In wenigen Tagen werden die letzten deutschen Soldaten und zivilen Mitarbeiter Kunduz verlassen haben.

Vom Beginn vor 10 Jahren bis heute waren in Kunduz über 20.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten eingesetzt.

Auch wenn die Bundeswehr Kunduz heute verlässt: Vergessen werden wir diesen Ort niemals. Kunduz hat die Bundeswehr geprägt wie kaum ein anderer Ort. Hier wurde aufgebaut und gekämpft, geweint und getröstet, getötet und gefallen.

(Anrede),

aus Respekt und aus Zuneigung zu diesem Land und seinen Menschen möchte ich meine Rede mit einer traditionellen afghanischen Erzählung beenden.

Sie heißt „Der alte Bauer und seine drei Söhne“:

„Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne. Als er starb, ließ er seine Söhne zu sich kommen und sagte: Ich habe einen Schatz für Euch. Er befindet sich auf dem Feld. Wer ihn als erster findet, dem gehört er. Der Vater starb. Die Söhne gruben jede Ecke des Feldes um.

Den Schatz fanden sie nicht. Als sie jedoch im Herbst die besonders guten Erträge verkauft hatten, verstanden sie die Worte des Vaters.“


In diesem Sinne wünsche ich unseren afghanischen Partnern Mut, Kraft und auch Geduld, damit Sie Ihre schwierige Aufgabe gut meistern werden, damit die Ernte gut wird.

Quelle: Website des Bundesverteidigungsministers; http://www.bmvg.de



Rede an den Sensenmann

Von René Heilig *

»Don, wir machen das!« So soll der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2003 seinem US-Kollegen Donald Rumsfeld die Bereitschaft signalisiert haben, mehr Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan zu schicken. In den Krieg.

Krieg? Wieso Krieg? Nein, nein, so hieß es, der Krieg tobe in Irak. Aus dem hat Rot-Grün Deutschland gewitzt herausgehalten. Dafür müsse man sich nun in Afghanistan ein wenig mehr engagieren – in Schulen und Krankenhäusern, beim Bau von Wasserleitungen und Straßen. Man wollte Frauen und Mädchen aus der Rechtlosigkeit befreien und deshalb ein paar kulturlose Tyrannen vertreiben. Dafür vor allem stellte man im Bundestag Marschbefehle auch nach Kundus aus. Und was haben die deutschen Soldaten in zehn Jahren dort vor allem gemacht? Stimmt, sie haben Keime der Hoffnung gesät. Doch aus denen wuchs Angst und wucherte Tod. Diese »Entwicklungshilfe« war uns bislang siebeneinhalb Milliarden Euro wert.

Uns? 70 Prozent der Deutschen sahen nicht ein, dass Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt werden müsse. Doch wie viele engagierten sich gegen das Morden? Bei den letzten Wahlen konnten sich die großen deutschen Kriegsparteien über einen Zuwachs an Vertrauen freuen. Auf dass sie Strucks Zusage nun aus der zweiten Reihe erledigen lassen können. »Gute Ernte« hat der gegenwärtige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) den einheimischen Nachrückern gestern in Kundus gewünscht. Er sprach wohl mit dem Sensenmann.

* Aus: neues deutschland, Montag, 7. Oktober 2013


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