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"Viel zu viel Schatten" in Afghanistan

Westerwelle: Bundeswehrabzug ab Ende 2011 / LINKE fordert sofortiges Ende des Einsatzes

Bilanzen des Afghanistan-Kriegs prägten am Donnerstag (16. Dez.) die Debatte in Deutschland und in den USA. Im Norden, wo die Bundeswehr stationiert ist, wird die Lage immer unsicherer.

Berlin/Washington (Agenturen/ ND). Die Zahl der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan soll Ende kommenden Jahres erstmals reduziert werden. 2014 werde dann die »Sicherheitsverantwortung in vollem Umfang an die Afghanen übergeben«, kündigte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) am Donnerstag in seiner Regierungserklärung im Bundestag an. Zugleich warb er für die im Januar anstehende Verlängerung des Bundeswehrmandats um ein Jahr.

Die ersten Provinzen könnten »im ersten Halbjahr 2011« in afghanische Sicherheitsverantwortung übergeben werden, sagte Westerwelle. 2014 sollten dann keine deutschen Kampftruppen mehr am Hindukusch sein. Im Dezember waren in Afghanistan knapp 4700 Bundeswehrsoldaten stationiert. Bis zu 5000 Einsatzkräfte sind dem Mandat zufolge möglich, hinzu kommt eine Reserve von 350 Mann. Wichtig sei, dass der Übergabeprozess »sorgfältig, nachhaltig und unumkehrbar« ist, sagte der Außenminister. »Wenn einen Tag nach dem Abzug internationaler Truppen die Taliban wieder einziehen könnten, wäre niemandem geholfen, den Afghanen nicht und auch nicht unserer eigenen Sicherheit.«

Westerwelles Erklärung basierte auf dem ersten sogenannten Fortschrittsbericht zu Afghanistan, den die Bundesregierung am Montag vorgelegt hatte. Die laut Westerwelle »ehrliche und realistische Darstellung« der Lage vor Ort soll den Abgeordneten bei der im Januar anstehenden Entscheidung über die Verlängerung des Bundeswehrmandats um ein Jahr helfen. Es gebe »Licht und noch immer viel zu viel Schatten« in dem Land am Hindukusch, so der Außenminister. Es bestehe aber Grund zur Annahme, dass die internationale Gemeinschaft ihre Ziele erreiche.

Die LINKE forderte erneut das sofortige Ende des Afghanistan-Einsatzes. Ihr Abgeordneter Jan van Aken wies darauf hin, dass die Mission von 71 Prozent der Deutschen abgelehnt werde.

Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung verdeutlicht nach Auffassung des EKD-Beauftragten Renke Brahms ein »eklatantes Missverhältnis« zwischen Militär und zivilen Hilfen. Er zeige, dass im zivilen Aufbau »viel versäumt worden ist«, sagte der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hellmut Königshaus (FDP), erklärte, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan rund um Kundus seit einigen Jahren »kontinuierlich verschlechtert« habe. Dennoch seien Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehrsoldaten »noch immer nicht in einem vernünftigen, ordentlichen Zustand«, sagte er.

Derweil sehen die USA ein Jahr nach ihrer massiven Truppenverstärkung zwar erhebliche Erfolge. Doch in vielen Gebieten sei die Lage nach wie vor prekär. Besondere Sorge bereitet die mangelnde Entschlossenheit Pakistans, gegen die Rückzugsgebiete der Taliban im Grenzgebiet vorzugehen. Mit dem Abzug der USA-Truppen soll laut dem am Donnerstag von Präsident Barack Obama vorgestellten neuesten Afghanistan-Bericht der Regierung wie geplant im Juli 2011 begonnen werden. Unklar sei aber, wie viele Soldaten nach Hause kommen. Seit der Truppenverstärkung auf rund 100 000 US-Soldaten in diesem Jahr gebe es »erhebliche Fortschritte« im Kampf gegen Taliban und Al Qaida. Es sei den Truppen gelungen, das Erstarken der Aufständischen zu stoppen. Doch nach wie vor seien die Erfolge »zerbrechlich und umkehrbar«. Zunehmend Sorgen machen sich die Militärs über die verschlechterte Lage in der nordafghanischen Kundus-Region, wo auch die deutschen Soldaten stationiert sind. Hier hätten die Taliban ihren Einfluss in diesem Jahr ausbauen können.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Dezember 2010

* Aus: Neues Deutschland, 17. Dezember 2010

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Krieg macht Fortschritte

Von Rüdiger Göbel **

Soldaten der Bundeswehr bleiben auf unbestimmte Zeit am Hindukusch stationiert. Das ist das einzig konkrete, was Außenminister Guido Westerwelle in seiner »Fortschritte und Herausforderungen in Afghanistan« überschriebenen Regierungserklärung am Donnerstag im Bundestag sagte. Weil der FDP-Politiker in seiner 20minütigen Rede auch in Aussicht gestellt hatte, Ende 2011 könnte das Bundeswehrkontingent erstmals reduziert werden, schlagzeilte die Agentur dapd: »Westerwelle verkündet Afghanistan-Abzug«. Das Springer-Portal bild.de meldete: »Deutschland will seine Truppen bis 2014 schrittweise aus Afghanistan abziehen«. Tatsächlich ließ der Außenminister offen, wann der letzte der derzeit 4600 Bundeswehrsoldaten Afghanistan verläßt. Westerwelle sagte lediglich, nach 2014 sollten keine deutschen Kampftruppen mehr im Einsatz sein. Die »Verantwortung für die Sicherheit« solle bis dahin komplett an die afghanische Polizei und Armee übergeben werden, die Bundeswehr aber dennoch am Hindukusch bleiben. Ähnlich richtet sich die US-Armee auf Dauer im Irak ein: Auch dort wurde die Verlegung mehrerer zehntausend Soldaten in diesem Sommer als »Abzug« dargestellt, ungeachtet der Tatsache, daß 50000 GIs bis auf weiteres im Zweistromland stationiert bleiben.

Bundesverteidigungsminister Karl-Theo­dor zu Guttenberg (CSU) war bei seinem Truppenbesuch in Afghanistan mit Gattin Stephanie und TV-Moderator Johannes B. Kerner zu Wochenbeginn »sehr zurückhaltend mit der Ankündigung eines Abzugstermins« (Spiegel online). »Ich bin nicht derjenige, der sagt, nächstes Jahr ziehen wir hier oder da Soldaten ab. Das wäre auch unverantwortlich.« Es gebe noch keine konkreten Pläne für den Abzug der Bundeswehr aus einzelnen Provinzen im deutschen Verantwortungsbereich im Norden des Landes, zitierte das Onlineportal des Hamburger Magazins den Freiherrn. In der »Fortschrittsbericht Afghanistan« überschriebenen Rechtfertigung der Bundesregierung für die weitere Kriegführung heißt es, die deutschen Truppen könnten »Ende 2011/2012« reduziert werden, »soweit die Lage dies erlaubt«.

Die New York Times berichtete kurz vor der Veröffentlichung eines »progress report« von US-Präsident Barack Obama am Donnerstag über die gemeinsame Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste zur Lage in Afghanistan. Selbst in der für die Presse aufbereiteten und zensierten Fassung des National Intelligence Estimate (NIE) wird diese als düster bezeichnet. Es gebe nur begrenzte Erfolgsaussichten am Hindukusch, schon gar keine, wenn Pakistan nicht massiv gegen Aufständische vorgeht, die an der afghanischen Grenze aktiv seien. Erst gestern wieder war dort mit Erfolg ein Nachschubkonvoi der NATO attackiert worden.

Optimismus dagegen in Obamas Lagebericht. Im Report des Weißen Hauses heißt es, die »Dynamik, die die Taliban in den vergangenen Jahren erreicht haben«, sei in vielen Landesteilen gebrochen und »in einigen Schlüsselgebieten umgekehrt« worden. Fortschritte seien auch beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu verzeichnen. »Folglich ist unsere Strategie dabei, die notwendigen Voraussetzungen für den Beginn einer verantwortungsvollen Reduzierung der amerikanischen Truppen im Juli 2011 zu schaffen«, stützt der Bericht Obamas Vorgabe, Mitte kommenden Jahres mit einem schrittweisen Abzug zu beginnen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zeigte sich gestern dagegen ob der Intensität der Kämpfe alarmiert und erklärte, die Lage sei so schlecht wie seit 30 Jahren nicht mehr. Es werde immer schwieriger, die Bedürftigen zu versorgen. Bei einem Bombenanschlag in der Provinz Herat wurden 14 Insassen eines Kleinbusses getötet. Durch NATO-Bomben starben vier afghanische Soldaten in der Provinz Helmand. Sie seien irrtümlich für Aufständische gehalten worden, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kabul.

* Aus: junge Welt, 17. Dezember 2010


Beruhigungspille

Von Detlef D. Pries ***

Guido Westerwelle hat Recht: Es gibt »viel zu viel Schatten« in Afghanistan. Statistiker haben registriert, dass es die 19. Regierungserklärung zu Afghanistan war, in der diese bemerkenswerte Feststellung getroffen wurde – nach neun Jahren Kriegseinsatz einer zuletzt auf 130 000 Mann aufgestockten internationalen Streitmacht. Schon diese trockenen Zahlen stehen für das Scheitern einer Strategie.

Westerwelle bemüht das Schatten-Bild freilich nicht ohne Grund: Schatten ist nur, wo irgendwo ein Licht strahlt. Das zu beschreiben wurde ein erster »Fortschrittsbericht« erstellt. 20 Schulen beispielsweise wurden 2010 dank deutscher Hilfe am Hindukusch erbaut. Wer will das kritisieren? Könnte allerdings sein, dass die neuen Schulen demnächst wieder ins Kreuzfeuer von NATO und Aufständischen geraten oder als Kollateralschaden eines Bombardements abgeschrieben werden müssen. Zwar berichteten auch US-Militärs ihrem Präsidenten vage, die »Dynamik« der Taliban sei »gebrochen«, doch am selben Tag klagte das Internationale Rote Kreuz, der Konflikt breite sich aus, die Situation der Bevölkerung habe sich verschlechtert. Wenn Westerwelle bei unveränderter Strategie »zuversichtlich« verkündet, Ende 2011 könne mit dem Abzug der ersten Bundeswehrsoldaten begonnen werden, wozu der Verteidigungsminister beredt schweigt, ist das nichts als eine Beruhigungspille für jene 71 Prozent der Deutschen, die den Kriegseinsatz ablehnen.

*** Aus: Neues Deutschland, 17. Dezember 2010 (Kommentar)


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